Herr Richter, waren Sie überrascht davon, dass Wladimir Putin die ganze Ukraine besetzen will?
Wolfgang Richter: Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass Putin die hohen Risiken einer groß angelegten Invasion vermeiden und stattdessen mit einer begrenzten Operation den Donbass besetzen würde. Offenbar hat er die Risiken eines großen Krieges unterschätzt, auch im Hinblick auf die Einheit des Westens und die Robustheit der westlichen Antwort.
Hat er die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte unterschätzt?
Richter: Die ukrainische Armee von 2014, dem Jahr der Krim-Annexion, ist nicht mehr vergleichbar mit der kampferprobten und motivierten Armee, die sich jetzt den russischen Truppen entgegenstellt. Sie hat eine nationale Identität und Widerstandskraft erlangt, die es 2014 noch nicht gab. Sie verfügt über 255.000 aktive Soldaten und bis zu 900.000 Reservisten und wird von der Bevölkerung unterstützt. Auch wenn Russland die Luftüberlegenheit hat, dürfte der Krieg in den Städten für beide Seiten furchtbar werden.
Hat Putin diesen Aspekt unterschätzt?
Richter: Putin selber sprach ja immer von „Brudervölkern“. Das fällt ihm jetzt auf die Füße, denn er hat keine Antwort auf die Frage, warum russische Soldaten in einem Bruderkrieg sterben. Dies birgt innenpolitisches Sprengpotenzial. Die Verbundenheit zwischen Russland und der Ukraine ist vielfältig – auch familiär. Die Ukraine schreibt nun eine Heldengeschichte mit dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als Symbolfigur. Sie könnte Putin gefährlich werden – zumal, wenn immer mehr junge russische Männer in Särgen zurückkommen.
Sie sind also nicht so optimistisch, was die Zukunft Putins angeht.
Richter: Moskau läuft Gefahr, seine Streitkräfte strategisch zu überdehnen. Die russischen Heereskräfte und Fallschirmjäger verfügen über rund 320.000 Soldaten. Die Hälfte davon ist jetzt im Ukraine-Krieg involviert. Weitere militärische Konzentrationen an anderer Stelle sind für Moskau kaum noch möglich, ohne hohe Risiken in anderen Spannungsgebieten an den langen russischen Grenzen einzugehen. Gleichwohl müssen wir unsere Verbündeten mit Grenzen zu Russland und zur Ukraine schützen und Moskau vor einem weiteren Angriff abschrecken. Aber wir müssen auch einen kühlen Kopf behalten und eine Eskalation verhindern.
Was bringen jetzt Waffenlieferungen des Westens?
Richter: Die Lieferung von Waffen zur Abwehr von Flugzeugen und Panzern stärkt die Widerstandskraft der ukrainischen Streitkräfte gegen die russische Luftüberlegenheit und die gepanzerten Folgekräfte, die jetzt an die Front geführt werden. Aus russischer Sicht stellt dies allerdings eine Bedrohung dar.
Angesichts des Angriffskriegs gegen die Ukraine: Waren wir alle zu naiv?
Richter: Vor einer Eskalation der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland haben Experten seit langem gewarnt. Ich würde aber nicht von „Naivität“, sondern von Fehlern des Westens sprechen, von Ignoranz gegenüber russischen Sicherheitsinteressen und der Unterschätzung der russischen Entschlossenheit. Bei der deutschen Wiedervereinigung hat man sehr umsichtig darauf geachtet, dass es nicht zu einem geopolitischen Nullsummenspiel kommt. Deutschland blieb im Bündnis, russische Truppen zogen ab, aber auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und Berlins erlauben wir keine Stationierung fremder Truppen. Leider haben die USA ihren Kurs in der Amtszeit von George W. Bush geändert und die Sicherheitsinteressen Russlands in Europa ignoriert. Das war ein großer Fehler. Putin hat sich gewandelt, wenn man seine Rede im Bundestag im Jahr 2001 mit der auf der Münchener Sicherheitskonferenz von 2007 vergleicht. Dort kritisierte er, dass der Westen die Versprechen nicht eingehalten hat, die er anlässlich der Nato-Erweiterung von 1999 gegeben hat. Die USA hätten die Rüstungskontrolle zum Nachteil russischer Sicherheitsinteressen aufgegeben und einen völkerrechtswidrigen Krieg im Irak geführt.
Sie meinen, dass die Nato-Erweiterungsstufen ein Fehler waren?
Richter: Wir hatten mit Russland eine inklusive europäische Sicherheitsordnung vereinbart, die die Sicherheitsinteressen aller Partner respektieren sollte. Vor der Nato-Erweiterung von 1999 – als es um den Bündnisbeitritt Polens, Ungarns, Tschechiens und der Slowakei ging – haben wir uns mit Russland 1997 auf die Nato-Russland-Grundakte geeinigt. Es ging immer um die Frage, wie man das Recht auf freie Bündniswahl verbinden kann mit dem Prinzip der geopolitischen und militärischen Zurückhaltung, um die Sicherheitsinteressen aller zu wahren. Das ist bei der deutschen Vereinigung 1991 gut gelungen. In der Nato-Russland-Grundakte von 1997 haben wir drei weitere Sicherheitsgarantien vereinbart.
Sie sprechen von drei Sicherheitsgarantien.
Richter: Ja, auch Deutschland wollte unsere mitteleuropäischen Nachbarländer im Bündnis verankern, um Stabilität zu wahren. Das sollte aber nicht die Sicherheit Russlands beeinträchtigen, wie der damalige Kanzler Helmut Kohl versicherte. Daher haben wir in der Nato-Russland-Grundakte drei Sicherheitsgarantien gegeben, nämlich erstens die OSZE als unser gemeinsames Sicherheitsdach zu stärken und einen gemeinsamen Sicherheitsraum ohne Trennlinien zu schaffen, zweitens die noch blockorientierte konventionelle Rüstungskontrolle anzupassen, um die militärischen Folgen der Nato-Erweiterung zu kompensieren, und drittens eine enge Sicherheitspartnerschaft zwischen der Nato und Russland zu gewährleisten. Daraus entstand der Nato-Russland-Rat. Mit der Europäischen Sicherheitscharta der OSZE wurde 1999 vereinbart, dass kein Staat und keine Organisation eine Vorrangstellung bei der Gestaltung der europäischen Sicherheit beanspruchen oder spezielle Einflusszonen errichten dürfe. Kein Staat solle seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer erhöhen.
Was war das Ziel der Anpassung der konventionellen Rüstungskontrolle?
Richter: Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, der sog. KSE-Vertrag von 1990, zielte auf ein militärisches Gleichgewicht der damaligen Militärblöcke in Europa ab, um die Bündnisfähigkeiten für eine groß angelegte Aggression oder einen regionalen Überraschungsangriff zu eliminieren. Zugleich hielt der Vertrag die Nato und Russland geografisch auf Distanz. Er war obsolet, als frühere Warschauer- Pakt-Staaten der Nato beitraten. Deswegen hat man sich 1999 auf ein KSE-Anpassungsabkommen geeinigt. Der Fehler der Nato war, dass sie die drei Sicherheitsgarantien nie wirklich umgesetzt hat. Dies geschah unter dem Druck der US-Regierung unter George W. Bush, denn Deutschland, Frankreich und andere Staaten Westeuropas wollten dies durchaus.
Ab der zweiten Erweiterungswelle der Nato wurde Russland nicht mehr eingebunden. Man hat argumentiert, die Erweiterung sei ausschließlich Sache der Nato, Russland komme keine Mitsprache zu. Zudem hat die Bush-Regierung damit begonnen, die Rüstungskontrolle abzubauen und eine „Freiheitsagenda mit geopolitischer Komponente“ zu verfolgen. Der völkerrechtswidrige Krieg einer US-geführten Koalition 2003 gegen den Irak war zwar kein Krieg der Nato, aber doch einer der Führungsmacht der Nato. Unter den Regierungen Bush und Trump haben wir die wichtigsten Rüstungskontrollverträge in Europa verloren. Die Sicherheitskooperation mit Russland brach zusammen. In Moskau wuchs der Verdacht, die USA wollten weitere grenznahe Stationierungsräume für Truppen und Raketen zum Nachteil der Sicherheit Russlands gewinnen. Dies rechtfertigt allerdings keinen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Waren Sie erstaunt über das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr?
Richter: Ja, aber dies ist die richtige Antwort auf eine Zeitenwende. Die Abrüstung in den 90er Jahren war zunächst eine Folge des KSE-Vertrags und eine Bedingung für die Wiedervereinigung. Nach 2000 entwickelte sich daraus aber eine fatale Umstrukturierung der Streitkräfte und ein einschneidender Sparkurs. Die Bundeswehr war nicht mehr an der Landes- und Bündnisverteidigung orientiert, sondern an Stabilisierungseinsätzen im Ausland. Man glaubte, auf eine volle materielle Ausstattung vor allem der Heereskräfte verzichten und Auslandseinsätze mit Einsatzkontingenten gewährleisten zu können, die aus Einzelmodulen und „ausgeborgter“ Ausstattung eigens zusammengestellt werden. Sie brauchen aber viel Zeit, um sich zusammenzufinden und auf die jeweilige Aufgabe vorzubereiten. Darunter litt die Einheit von Auftrag, Personal, Material, Ausbildung und Einsatz. Aber genau die braucht man, um eine hohe Einsatzbereitschaft für die Landes- und Bündnisverteidigung sicherzustellen. Stattdessen wurden Verantwortlichkeiten auseinandergerissen und Teilaufgaben einer Vielzahl von Kommandobehörden und der Industrie zugeordnet. Zudem ist der Prozess der Materialbeschaffung zu langsam und zu ineffizient.
Geht es tatsächlich, wie die Linke sagt, um eine nie da gewesene Aufrüstung oder reden wir nicht viel eher um eine Instandsetzung unserer Streitkräfte?
Richter: Jetzt geht es erst einmal darum, die materiellen Lücken der Bundeswehr zu schließen und schlanke, effiziente Strukturen zu schaffen, damit wir unsere Bündnispflichten in vollem Umfang erfüllen können. Dabei geht es natürlich auch ums Geld. Aber vor allem brauchen wir einen Mentalitätswandel und Strukturen, die eine hohe Einsatzbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit in der Landes- und Bündnisverteidigung gewährleisten. Dafür brauchen wir – wie im Kalten Krieg – funktionsfähige Großverbände, in denen die Verantwortung für Auftrag, Personal, Material und Ausbildung in einer Hand liegt. Weniger Häuptlinge, mehr Indianer, um das mal etwas platt zu sagen. Wir haben uns gegenüber der Nato verpflichtet, drei einsatzbereite Divisionen bereitzuhalten. Das müssen wir jetzt sehr schnell in die Tat umsetzen. Zugleich müssen wir die Beschaffung von Waffensystemen und Ausrüstung beschleunigen.
Jetzt kommt die Debatte über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Richter: Dies ist nicht vordringlich. Sie würde auch schwierige verfassungsrechtliche und praktische Fragen aufwerfen: Die Bundeswehr muss die demografische Entwicklung berücksichtigen. Es gibt weniger junge dienstfähige und dienstbereite Männer und Frauen. Wir haben einen Wettbewerb um gute Köpfe mit anderen Bereichen der Gesellschaft, vor allem mit der Wirtschaft. Uns fehlen die Kasernen, die Infrastruktur und die Truppenteile, die man für die Ausbildung einer großen Zahl ungedienter Soldaten braucht. Die Debatte um die Wehrgerechtigkeit würde wieder aufflammen. Ich könnte mir eine allgemeine Dienstpflicht vorstellen. Aber in diesem kritischen Moment würde die Vorbereitung der nötigen Infrastruktur, die Aufstellung von Ausbildungseinheiten und der hohe Zeitaufwand, bis einsatzbereite Wehrdienstleistende zur Verfügung stehen, vom Wesentlichen ablenken und unnütz große Summen verschlingen. Wir brauchen jetzt schnell eine möglichst hohe Einsatzbereitschaft und Kampfkraft voll ausgestatteter und gut ausgebildeter Großverbände, damit wir in kurzer Zeit die Ostflanke der Nato schützen können.
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