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100. Geburtstag: Holocaust-Überlebende: "Ich brauche niemandem zu vergeben"

100. Geburtstag

Holocaust-Überlebende: "Ich brauche niemandem zu vergeben"

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    Margot Friedländer mit der Bernsteinkette ihrer Mutter vor ihrem Ehrenbürgerporträt im Berliner Parlament. „Ich liebe Menschen und ich glaube, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist.“
    Margot Friedländer mit der Bernsteinkette ihrer Mutter vor ihrem Ehrenbürgerporträt im Berliner Parlament. „Ich liebe Menschen und ich glaube, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist.“ Foto: Jutrczenka, dpa

    Frau Friedländer, können Sie erzählen, was am 20. Januar 1943 passiert ist?

    Margot Friedländer: Meine Mutter, mein Bruder Ralph und ich wollten wegfahren. Meine Mutter war vor mir zu Hause, da war die Wohnung bereits versiegelt und mein Bruder Ralph von den Nazis abgeholt. Als ich nach Hause kam, stand ein Mann vor unserer Tür. Er ist vor mir hergegangen ins Haus. Und das kam mir komisch vor. Wir wollten ja wegfahren. Als ich nach Hause kam und den Mann gesehen habe, der vor unserer Tür steht, frage ich mich: Auf wen wartet der? Ich bin dann vorbeigegangen eine Etage höher und habe bei Nachbarn geklingelt. Die haben mir gesagt, dass meine Mutter zu Bekannten zwei Häuser weiter ist. Nach ein paar Stunden bin ich zu den Bekannten gegangen. Da war meine Mutter aber nicht, die Nazis hatten sie geschnappt. Die Bekannten haben mir von ihr folgende Worte ausgerichtet: „Wenn Sie meine Tochter sehen sollten, sagen Sie ihr: Ich gehe mit Ralph, wohin das auch immer sein mag. Sie soll versuchen, ihr Leben zu machen.“ Und sie hatten die Handtasche meiner Mutter, in der ein Notizbuch und die Bernsteinkette waren.

    Die Kette und das Notizbuch sind das Einzige, was Sie noch von Ihrer Mutter haben?

    Friedländer: Ja.

    Margot Friedländer erinnert sich an den Holocaust

    Notizbuch und Kette haben Sie täglich vor Augen. Ist das nicht schmerzvoll?

    Friedländer: Nein, es ist nicht schmerzvoll. Es ist anders. Es ist heute 75 Jahre her, das ist was anderes. Es ist doch ein wunderbares Gefühl, wenigstens etwas zu haben.

    Wie haben Sie die Zeit im KZ in Theresienstadt in Erinnerung?

    Friedländer: Wir haben jeden Tag dem Tod in die Augen gesehen. Wir, die es überlebt haben, wussten nicht, dass wir es schaffen konnten. Es ist etwas ganz Unvorstellbares, was man damals gemacht hat. Es war etwas Unvorstellbares, diese Nazi-Jahre.

    Wie war der 8. Mai 1945, der Tag als die Russen das Lager befreit haben?

    Friedländer: Unvorstellbar. Einerseits unglaublich, dass wir es geschafft haben. Und andererseits war es für mich der Moment, wo ich mir gesagt habe, jetzt werde ich erst erfahren, was wirklich war. Wir haben ja nichts gewusst. Die Transporte gingen doch schon sehr lange und niemand ist je zurückgekommen und hat uns davon erzählt. Ich habe doch erst ungefähr eine Woche vor der Befreiung – als ein Transport von Auschwitz nach Theresienstadt gekommen ist und die Halbtoten und die Toten herausgefallen sind – erfahren von den Todeslagern. Man hat doch immer nur gesagt: „Die Transporte gehen nach Osten.“ Was war der Osten? Hat meine Mutter gedacht, dass sie bei der Ankunft im KZ sofort von ihrem Sohn, meinem Bruder, getrennt wird und ins Gas geht? Können Sie sich das vorstellen? Das sind so Sachen, wo ich sage: Denkt daran, was gewesen ist, was man mit Menschen gemacht hat. Es tut mir so weh, weil ich nicht verstehen kann, dass Menschen das machen konnten.

    Holocaust-Überlebende Margot Friedländer veröffentlicht Buch

    Sie werden im November 100 Jahre alt. Jetzt erscheint Ihr neues Buch „Ich tue es für Euch“. Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger interviewt Sie darin über Ihr Leben. Im Untertitel kommt das Wort „Vergebung“ vor. Haben Sie den Deutschen vergeben?

    Friedländer: Ich habe anderthalb Jahre lang auf der Flucht ungefähr 16 verschiedene Helfer gehabt, bevor ich ins KZ kam. Für mich ist das Wesentlichste gewesen, dass ich mir immer gesagt habe: Es gab Deutsche – es waren nicht viele – aber die haben etwas getan, was ihren Kopf hätte kosten können, wenn sie geschnappt worden wären. Ich bin ja nicht die Einzige gewesen, die versteckt wurde. Das ist nicht zu vergleichen, mit dem, was diese Menschen getan haben für uns, die sie versteckt haben. Sie haben ihr Essen und ihr Bett mit uns geteilt. Ich brauche niemandem zu vergeben, denn die, die es gemacht haben, gibt es ja nicht mehr, die sind ja kaum noch am Leben. Und diesen Menschen, die mir geholfen haben, denen habe ich nichts zu vergeben. Ich liebe Menschen und ich glaube, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist. Ich habe in Berlin Freunde gefunden. Menschen, die ich nie gekannt habe, keine jüdischen nur Christen. Menschen, die zum größten Teil, in Berlin nach dem Krieg geboren sind. Aber ich will auch nicht wissen, was ihre Eltern oder Großeltern gemacht haben. Denn damals in der Zeit waren alle irgendwie involviert.

    1946 sind Sie in die USA ausgewandert, 2010 sind Sie dann nach Berlin zurückgekommen, mit 88 Jahren. Woher haben Sie die Kraft genommen, zurückzukommen?

    Friedländer: Ich bin ja hier geboren. Das ist meine Heimat. Als Bundespräsident Horst Köhler mir die deutsche Staatsbürgerschaft zurückgegeben hat, habe ich gesagt: „Jetzt erwarten Sie, dass ich mich bedanke. Ich bedanke mich nicht, denn Sie geben mir hier nur zurück, was Sie mir weggenommen haben.“ Schließlich hat mein Vater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und das Eiserne Kreuz bekommen. Meine Mutter hatte einen Bruder, den sie im Ersten Weltkrieg verloren hat. Wir waren Deutsche, wir waren gute Bürger, ich habe alles Recht, hier zu sein, genau wie alle anderen.

    Deshalb glaubt Margot Friedländer an das Gute

    Ist das Ihre Mission, für Menschlichkeit zu werben?

    Friedländer: Das ist meine Mission. Ich spreche für alle, die man umgebracht hat. Nicht nur für die sechs Millionen Juden, denn man hat ja Millionen Menschen umgebracht, die anders gedacht haben, andere Ideen, andere Einstellungen hatten. Es ist für euch, nicht für mich, das sage ich immer wieder. Was war, können wir nicht mehr ändern, es darf aber nicht wieder geschehen. Und meine Aufgabe ist es, euch eine Warnung zu geben, euch die Hand zu reichen, damit ihr die Zeitzeugen sein könnt, die wir nicht mehr lange sein können. Es ist für euch, ihr müsst es weitertragen, ihr müsst dafür sorgen, dass so was nicht passiert. Was wir erleben mussten, ist unmenschlich gewesen. Menschen haben das gemacht. Waren das Menschen? Nein. Es gibt kein jüdisches, christliches, muslimisches Blut, es gibt nur menschliches Blut! Wir sind alle gleich! Ich spreche nicht politisch. Meine Sache ist, Menschen die Hand zu reichen und zu sagen: „Ich möchte, dass ihr gute Menschen seid.“ Ich möchte nicht, dass ihr gegen Menschen seid. Wir sind alle gleich! Wir sind Menschen!

    Es hört sich so selbstverständlich an, dass es nur „menschliches Blut“ gibt…

    Friedländer: Aber wenn man ein Antisemit ist, denkt man das nicht. Da akzeptiert man andere Menschen nicht, da denkt man nur an sich, an seine Religion, an seine Einstellung.

    Was glauben Sie ist das Wichtigste, dass so was Schlimmes im heutigen Deutschland nicht mehr passiert? Was kann man am besten dagegen tun?

    Friedländer: Natürlich kann das immer wieder passieren, wenn ihr nicht aufpasst. Ich sage zum Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier immer: „Eure Worte sind wunderbar, aber Taten müssen folgen.“ Man kann ja nicht alle Menschen lieben, das ist auch nicht wichtig, aber respektieren. Man respektiert Menschen, alle! Ganz egal, was ihre Hautfarbe, ihre Religion, ihre Figur ist. Sei menschlich, bring nicht andere Menschen um, weil sie jüdisch sind oder schwarz!

    Es ist alles nicht gut auf der Welt, aber Sie haben vorher gesagt: „Sie glauben an das Gute im Menschen“. Wie passt das dann zusammen?

    Friedländer: Weil ich doch denke, dass in jedem Menschen irgendetwas Gutes ist, irgendetwas. Das ist natürlich ein persönlicher Wunsch. Menschen werden immer Menschen sein, aber ich versuche mein Bestes. Wenigstens, dass ich euch sage: Nach dem, was ich erlebt habe, habe ich euch trotzdem gern! Ich kann euch nicht umändern, aber ein bisschen, glaube ich, kann ich was tun.

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