Wer in der Wiener Straßenbahn mit der Linie 71 in Richtung des südlichen Stadtrandes unterwegs ist, dem fallen sie rasch auf, Dutzende Geschäfte am Straßenrand, die Blumen, Kränze, Grabschmuck verkaufen. Dicht an dicht reihen sich, je näher man der Haltestelle „Zentralfriedhof Tor 1“ kommt, zu beiden Seiten der schnurgeraden Simmeringer Hauptstraße auch die Steinmetzbetriebe, Gärtnereien, Grabpflegefirmen und vieles mehr, was mit dem letzten Abschied zu tun hat. Das Restaurant Zentral befindet sich in Gehweite des ersten Portals eines der bis heute größten Friedhöfe Mitteleuropas. Austropop-Star Wolfgang Ambros hat ihm eine seiner bekanntesten Hymnen gewidmet: dem Wiener Zentralfriedhof.
Noch deutet an diesem späten, sonnigen Nachmittag nichts auf das Jubiläum hin, das am Allerheiligentag bevorsteht – am 1. November 1874, vor genau 150 Jahren, fand das erste offizielle Begräbnis am damals neu eröffneten Zentralfriedhof statt. An diesem Freitag werden tausende Wienerinnen und Wiener zu den letzten Ruhestätten ihrer Angehörigen kommen, Lichter entzünden und der Verstorbenen gedenken. Millionen Menschen wurden hier begraben, eine Rekordzahl, bis heute unübertroffen. Längst ist der Zentralfriedhof nicht nur eine der gefragtesten Sehenswürdigkeiten in Wien. Er ist Naturraum, Naherholungsgebiet und manchmal auch Treffpunkt, er ist Ort der Geschichtsvermittlung, und die Stadt Wien tut alles, um den aus über 330.000 Grabstätten bestehenden Friedhof entsprechend zu vermarkten.
Wiener Zentralfriedhof: Beim Nordic Walking kurz das Grab pflegen
Einmal durch eines der Eingangstore, wird der Verkehrslärm rasch zum Hintergrundrauschen, bevor es schließlich ganz ruhig wird – und bald nur mehr das Krächzen von Krähen zu hören ist. Ohne die vielfach aufgestellten Wegweiser und Übersichtskarten könnte man sich auf dem über zwei Quadratkilometer großen Areals rasch verlaufen. Von den asphaltierten Hauptalleen, auf denen im Schritttempo und mit entsprechendem Ticket auch Autos fahren dürfen, führt ein dichtes Wegenetz immer tiefer hinein. Auf spärlich gesäten Parkbänken sitzen Flaneurinnen und Müßiggänger, die hier kein Grab besuchen wollen. Sie liegen unter immergrünen Nadelbäumen in der untergehenden Oktobersonne, lesen Bücher, hören Musik oder genießen die Stille.
Auf nicht wenigen Grabsteinen prangen grellbunte Sticker der Friedhöfe Wien GmbH: „Wahren Sie Ihr Benützungsrecht!“ ist auf den gelben zu lesen. Rote Sticker und rote X-Kreuze kleben auf jenen Grabsteinen, wo Angehörige dem nicht nachgekommen sind: „Benützungsrecht abgelaufen! Dieses Grab steht vor der Auflassung und Abtragung.“
Zwischen den Gräbern kniet ein ältere Dame in Funktionskleidung, sie putzt einen Grabstein und macht sich an den Blumenbeeten zu schaffen. Schließlich nimmt sie ihre Nordic-Walking-Stecken in die Hände und marschiert los. Manche Besucher sind mit Fahrrädern unterwegs, manche suchen nach Gräbern, andere schweifen ziellos durch die Reihen.
Ein paar Schritte weiter bietet der „Park der Ruhe und der Kraft“ auch Besuchern mit esoterischer Ader einen Ort zum Verweilen. Einen keltischen Originalen nachempfundenen Steinkreis gibt es dort, ebenso wie einen Räucherplatz – das Areal ist der jüngste Teil des Friedhofsgeländes. Naturgräber schließen an das Gelände an, hier gibt es keine Namen und keine Grabsteine.
Im Zentrum, nicht weit von der pompösen Kirche, dem Herz des Friedhofs, sind die über tausend Ehrengräber: Staatsmänner und -frauen liegen hier, rings um die Präsidentengruft und die Arkaden, in denen Adelige begraben sind, finden sich die Gräber von Kanzlern und Ministern, von Prominenten, Künstlern wie Musiker Falco. „Hans Hölzel, 1957 - 1998“ steht auf einem schmucklosen, moosüberzogenen Grabstein. Falcos bürgerlicher Name. Dass sich dahinter einer der größten Rockstars des Landes verbirgt, ist trotzdem nicht zu übersehen. Wie eine Harfe neigt sich ein Plexiglasbogen mit dem Abbild des Sängers über das Grab, eine Marmorstele ragt in die Dämmerung, darauf in goldenen Großbuchstaben: FALCO.
Ein Problemfall ist das Grab von Walter Nowotny. Die letzte Ruhestätte des NS-Fliegerhelden, bis heute Pilgerstätte für Rechtsextreme und Neonazis, ist zum Schutz vor Schändungen mit Plastikplanen umhüllt, nur ein Kranz des Grabpflege-Vereins gibt das Grab zu erkennen: „In treuem Gedenken“ ist darauf zu lesen. Die Gräber des Zentralfriedhofs, sie spiegeln nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gegenwart Österreichs.
Die Habsburger-Monarchie hatte ein Problem mit dem Zentralfriedhof
Seit seiner Gründung im Jahr 1874 sorgt der Friedhof vor den Toren der Hauptstadt auch für Kritik, für Streit und Dissens. Es war die Not, für die Toten Platz zu schaffen, der die Stadtväter im 19. Jahrhundert bewog, das Areal anzukaufen. Von Anfang an war der Zentralfriedhof für alle Konfessionen konzipiert. Vor allem den Katholiken in der Habsburger-Monarchie war das ein Dorn im Auge. Besonders die Tatsache, dass eine konfessionelle, katholische Weihe des Friedhofs bei dessen Eröffnung von der Gemeinde Wien abgelehnt wurde, sorgte für Wirbel und schließlich für eine mehr oder weniger geheime – katholische – Einweihung, abseits der Öffentlichkeit.
Eines der modernen Gräber ist ganz frisch an diesem Tag kurz vor Allerheiligen, auf den zahllosen grünen Kränzen sind asiatische Schriftzeichen zu sehen, ein Kreuz fehlt. Zwar gibt es auf dem Zentralfriedhof nach wie vor keinen Konfessionszwang, die verschiedenen Religionen haben aber eigene Areale.
In den Jahren nach seiner Eröffnung erfreute sich der Zentralfriedhof keineswegs der Sympathie der Wienerinnen und Wiener – im Gegenteil. Während Trauernde vor der Realisierung des gigantischen Projekts noch verhältnismäßig kurze Wege zu mehreren städtischen Friedhöfen zurückzulegen hatten, bedeutete die riesige Nekropole für viele nun eine stundenlange Anreise, oft zu Fuß – und erst mit der Elektrifizierung und der Eröffnung der Straßenbahnlinie 71 bot sich eine bessere Erreichbarkeit.
In Krisenzeiten wurden die Nachteile des gar nicht zentral gelegenen Zentralfriedhofs offensichtlich: Während des Ersten Weltkriegs etwa, als die rund zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählende Habsburger-Metropole von der Spanischen Grippe heimgesucht wurde, mussten die Wiener Straßenbahnen auf eigens eingerichtete Leichen-Waggons zurückgreifen, mit denen des Nachts die Toten aus den Wiener Hospitalen zur neuen Nekropole verfrachtet wurden, um sie dann zu bestatten. Den Wienerinnen und Wienern und ihrem Bild einer „schönen Leich‘“, wie man die opulenten Begräbnisse in Wien bis heute nennt, passte das alles gar nicht. Bald schon war deshalb der Straßenbahn-Leichenwagen wieder Geschichte.
Von den vergangenen Zeiten zeugt heute das Bestattungsmuseum der Stadt Wien. Dort finden Urlaubsgäste, die dem Klischee des morbiden Wien nachjagen, alles, was das schwarze Herz begehrt: Man kann im Sarg probeliegen, wie es einst auch das Wiener Original Helmut Qualtinger tat. Der beleibte Kabarettist und Schauspieler kam, so sagt man, danach nur noch mit Hilfe wieder heraus. Man kann Selfies aus dem Grab machen – vor allem aber gibt es Souvenirs aus der Marketingabteilung der Wiener Friedhöfe. Verkaufsschlager sind Zigarettenetuis, die die Schockbilder auf den Packungen mit Slogans wie „Rauchen sichert Arbeitsplätze“ überdecken oder Beutel mit dem Aufdruck „Ich turne bis zur Urne“. Prominent im Museum: Eine karikaturhafte Figur des Sensenmannes, die, fast liebevoll, ein Herz mit dem Wiener Stadtwappen in Händen hält.
Manche lassen sich auf dem Friedhof einschließen
Der Friedhof als Erlebnisparcours – für diesen Imagewandel sorgen nicht nur Joggingstrecken für den „Silent Run“, den Lauf in Stille. Wer sich bei der Friedhofsverwaltung registriert, dem steht auch das Angebot einer kleinen, privaten Gemüseanbau-Parzelle offen – freilich auf Böden, unter denen keine Toten liegen oder lagen. Bio, selbstverständlich. Und dann, am Tag vor Allerheiligen, nimmt ein ganz und gar heidnischer Brauch den ehrwürdigen Zentralfriedhof ein: Die Wiener Friedhöfe GmbH lädt zum Halloweenfest mit Grusel für alle und Rätselrallye zwischen den Gräbern.
Die Sonne ist jetzt fast untergegangen. An den Würstelständen vor Tor 3 kommen die Hungrigen und Durstigen zusammen. Man trinkt Glühwein, den der Standbesitzer, ein Burgenländer, wie das Kennzeichen des Standes verrät, ausschenkt. Seine Frau Hermi serviert Leberkäs an einen alten Herren, der vom Friedhof kommt. Ihre Plastikhandschuhe sind löchrig. Die nächsten Tage, sagt Hermi, wird es ein gutes Geschäft geben. Bis zum Sonntagabend wird sie ihren Stand vor dem Haupttor offen halten. Wie sieht man hier, an den Stammplätzen direkt vor dem Haupttor, die Veränderungen, die der Zentralfriedhof in seiner langen Geschichte durchgemacht hat? Von seinem Balkon aus, sagt einer der letzten Gäste am Stand, sehe er genau auf den Notausgang, durch den Besucher, die den Torschluss um 18 Uhr versäumt haben, noch hinausgelangen könnten. „Da kommen manche erst um zwei Uhr nachts raus. Ich frag mich dann, was machen die dort drinnen?“ „Es ist ohnehin alles verrückt“, kommentiert der Wirt, während er die Läden des Würstelstands schließt und langsam die letzten Lichter rund um den großen Friedhof erlöschen. „Wos wüst do mochn!“
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