Christ Fowe ist das einzige Kind in der Dorfschule von Badjong, das eine Brille trägt. Seine Schritte sind noch unsicher an diesem Nachmittag, er klammert sich an die Hand seiner künftigen Lehrerin Claire Djouelong. Sie führt den Siebenjährigen ins Klassenzimmer, einen schlichten Raum mit vergitterten, glaslosen Fenstern und einfachen Holztischen und Bänken. An der verkratzten Tafel haben die Kinder die Buchstaben T und A in Groß- und Kleinschreibung geübt. Die Lehrerin zeigt Christ den Platz in der vorderen Reihe, an dem er bald sitzen wird. Die 41 Mädchen und Buben der ersten Klasse mustern ihren neuen Mitschüler neugierig, sie kichern, tuscheln, rufen ihm ein freundliches Hallo zu. Christ strahlt, er nimmt lachend die Brille ab und winkt damit seinen Klassenkameraden. „Geben wir ihm eine Woche“, sagt Claire Djouelong, „dann ist Christ voll integriert“.
Ein neuer Schüler ist eigentlich nichts Ungewöhnliches an einer Dorfschule mit fast 300 Kindern. In dem Fall schon. Für Christ ist es das Happy End, der Anfang eines neuen Lebens. Denn obwohl er mit seiner Mutter Nadine Josiane (29) und dem kleinen Bruder Tresor (2) nur ein paar Minuten Fußweg entfernt wohnt, war für ihn der Schulbesuch, das Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, bisher nur ein Traum.
Der Siebenjährige aus dem kleinen Dorf Badjong im Westen Kameruns, etwa 300 Kilometer von der Hauptstadt Jaunde entfernt, ist fast blind zur Welt gekommen. Er führte ein Leben in Dunkelheit – ein Schicksal, das der Bub mit rund 17 Millionen Menschen weltweit teilt, darunter zwei Millionen Kindern. Sie alle müssen blind leben, weil sie in bittere Armut hineingeboren wurden und sich ihre Familien die Behandlung nicht leisten können.
Etwa 120 Augenärzte gibt es in Kamerun, nur fünf operieren auch Kinder
Christs Diagnose: Katarakt. Grauer Star. Eine Augenerkrankung, deren Operation in westlichen Ländern Standard ist. In Deutschland beispielsweise leidet jeder Zweite über 74 Jahren unter Grauem Star, bei dem die Linse sich nach und nach eintrübt. Weltweit werden rund 15 Millionen Operationen jährlich durchgeführt. Ein kleiner Eingriff, meist ambulant – und die Patienten können schon nach kurzer Zeit wieder gut sehen. In Entwicklungsländern aber, wie in Kamerun, sind häufig auch Kinder von Grauem Star betroffen. Ursachen sind zum Beispiel Mangelernährung, Röteln in der Schwangerschaft oder – wie bei Christ – genetisch bedingt.
Während die Nachbarskinder in ihren orange-blauen Schuluniformen jeden Morgen fröhlich an der Hütte von Christs Familie vorbeihopsen, kauert er meist drinnen auf einem Bambusschemel im Dunkeln auf dem Lehmboden vor dem offenen Feuer, an dem seine Großmutter Pauline Mambé Fufu kocht, den traditionellen afrikanischen Maniok-Brei. Bei der 70-Jährigen sitzt jeder Handgriff, über Jahrzehnte eingeübt, denn auch sie kann nicht sehen. Christ fühlt das Feuer, wenn die Flammen zu ihm lodern, dreht er sich schnell weg. Draußen in der Sonne ist es ihm zu hell, die Dunkelheit drinnen tut den Augen gut, die nur Umrisse oder starke Kontraste erkennen.
Das reicht nicht, um zur Schule zu gehen. Es reicht gerade einmal, um sich rund um die Hütte zurecht zu finden. Christ träumt davon, sehen zu können wie andere Kinder auch. Er möchte mit seinen Cousins mit dem Bambus-Reifen spielen und den auch wieder finden, wenn er ihm ins Gebüsch rollt. Er möchte lesen und schreiben können. Und er möchte Fußballer werden. „Ich kann schon bis 100 zählen“, sagt er stolz und legt los: eins, zwei, drei … Wer ihm das beigebracht hat, weiß seine Mutter Nadine nicht. Die Cousins vielleicht oder der Rest der Großfamilie, die nebenan wohnt. Sie alle leben von der Landwirtschaft, bauen rund um ihre Hütten Bohnen an, Mais, Bananen, Maniok. Es reicht zum Überleben, für mehr nicht.
Nadine Josianes Blick geht ins Leere, auch ihre Augen sind trüb, auch sie ist von Geburt an blind. Trotzdem betreibt sie oben an der Hauptstraße einen kleinen Laden, direkt neben der Krankenstation, in der die Dorfschwester Malaria-Kranke behandelt oder Kindern auf die Welt hilft. Nadine Josiane verkauft Gemüse, Reis, Eier, Shampoo – und kann damit sich und ihre Söhne ernähren. Einen Vater gibt es nicht, er hat die Familie im Stich gelassen. Christ hilft seiner Mutter, so gut es geht. „Früher habe ich ihn oft zum Abwaschen geschickt“, erzählt Nadine Josiane. „Aber wenn er mit zehn Tellern das Haus verlassen hat, kam er mit nur neun zurück. Er sieht es ja nicht, wenn er etwas verliert.“
Schwester Doris ist zwei-, dreimal in der Woche in den Dörfern unterwegs, um Kinder wie Christ aufzuspüren
Nadine Josiane packt ein paar Kleidungsstücke in eine Plastiktüte, einen Schlafanzug für Christ, frische T-Shirts. Sie sperrt ihren Laden ab, nimmt einen Fünf-Liter-Kanister Wasser mit, ein Bündel Bananen, zwei Plastikteller und -tassen. Christ hat großes Glück, sagt sie, „er wurde auserwählt“. Denn sie hätte sich seine Augenoperation nie leisten können, die nun für den nächsten Tag ansteht.
Das Glück kam in Person von Doris Ayong (48) in ihr Dorf. Schwester Doris ist augenmedizinische Fachkraft in der Acha-Augenklinik in Bafoussam, der Provinzhauptstadt der kamerunischen Westregion. Gemeinsam mit einem Screening-Team und ihrer klappbaren Spaltlampe, mit der sie die Augen untersucht, ist sie zwei-, dreimal in der Woche in den Dörfern unterwegs, um Kinder wie Christ aufzuspüren; um die Familien zu beraten und über die Möglichkeiten und Kosten einer Operation aufzuklären. „Wir waren bei der Familie seines Onkels“, erzählt Doris Ayong, „und weil es da schon mehrere Fälle gab, haben wir auch Christs Familie untersucht.“ Das Ergebnis: Alle bis auf Christs Bruder Tresor haben Grauen Star.
30 Euro kostet die Operation eines Auges bei Erwachsenen, 125 Euro pro Auge bei Kindern, weil die eine Vollnarkose brauchen und intensive Nachsorge. Das ist viel Geld in einem Land, in dem ein Grundschullehrer 75 Euro im Monat verdient und der Liter Benzin 1,30 Euro kostet.
Die Kosten für Christs Operation übernimmt die Christoffel Blindenmission, kurz CBM, mit Sitz im hessischen Bensheim. Die Hilfsorganisation unterstützt seit 1908 in 40 Ländern rund 400 Projekte – darunter mit jährlich 200.000 Euro das Acha-Eye-Hospital der Presbyterianischen Kirche in Bafoussam. Für Familien wie die von Christ, die sich eine Operation nicht leisten können, gibt es einen Sozialfonds von 10.000 Euro, aus dem Operation, Nachsorge und eine Brille bezahlt werden.
Etwa 120 Augenärzte gibt es in Kamerun, einem Land mit 28,5 Millionen Einwohnern. Vielleicht 20 der Ärzte operieren, nur fünf davon auch Kinder, erzählt Dr. Faustin Ngounou. Der 59-jährige Augenarzt arbeitet seit 1998 am Acha-Eye-Hospital. 2005 hat er die Leitung des Krankenhauses übernommen. Inzwischen gehören vier weitere Augenkliniken dazu und drei Außenstellen. „Das reicht bei Weitem nicht aus, wir haben immer noch viel zu wenige Augenärzte in Westafrika“, sagt er. 2262 Augenoperationen wurden im vergangenen Jahr am Acha-Eye-Hospital durchgeführt, 1031 wegen Grauem Star. 37 Kindern hat Ngounou das Augenlicht zurückgegeben.
Der vierfache Vater kommt selbst aus der Westregion und spricht perfekt Deutsch. Das hat er in Leipzig gelernt, wo er acht Jahre lang Medizin studiert hat – in der damaligen DDR. „Ich wollte Augenarzt werden, weil ich damit in meiner Heimat vielen Menschen helfen kann“, erzählt er. „Sehen ist essenziell, und man sieht den Erfolg sofort nach jeder Operation.“ Da er in den Wirren der Wendezeit keine Chance hatte, seine Facharztausbildung in Deutschland anzuschließen – „Man wusste nicht, wer nächste Woche noch da ist“ –, ging er nicht wie geplant nach München, sondern nach Nairobi. Dank eines Stipendiums des Lions Clubs Südbayern und einer Patenschaft der Augsburger Lions. Wie viele Menschen durch ihn inzwischen wieder sehen können, weiß Dr. Ngounou nicht. „Bei 20.000 Operationen habe ich aufgehört zu zählen.“
Sein nächster Patient ist der siebenjährige Christ Fowe. „Es ist bei ihm allerhöchste Zeit für eine Operation“, sagt Ngounou. Denn mit acht, neun Jahren sei das Lernfenster für das Gehirn geschlossen. „Das Auge wird faul, und das Gehirn kann die Impulse nicht mehr verarbeiten und in Bilder umsetzen“, erläutert er.
Am nächsten Morgen legt der Anästhesist den kleinen Christ in Narkose. „Ein außergewöhnliches Kind“, sagt er
Christ freut sich auf die Operation. Fröhlich hüpft er in den Bus, der ihn und seine Mutter zum Acha-Eye-Hospital bringt. Dort muss er erst mal Schlange sitzen für die Voruntersuchungen. Gut 20 Patienten warten, Christ ist das einzige Kind. Eine Schwester klebt ihm kleine Heftpflasterstreifen auf die Stirn, eins über das rechte, eins über das linke Auge – als Zeichen dafür, dass beide Augen operiert werden müssen. Christ lässt alles geduldig über sich ergehen: die Tropfen, die in den Augen brennen; die Untersuchungen, bei denen er vor den Messgeräten auf dem Stuhl knien muss, weil sie eigentlich für Erwachsene sind; das grelle Licht der Taschenlampe, mit dem ihm der Arzt ins Auge leuchtet. „Er möchte unbedingt sehen“, sagt seine Mutter Nadine, „und ich wünsche es mir so sehr für ihn.“
Am nächsten Morgen legt Anästhesist Kenneth Awah den kleinen Christ in Narkose. „Ein außergewöhnliches Kind“, sagt er, so ruhig, so geduldig, so furchtlos. Christ verdrückt eine Träne, als Awah ihn ein zweites und drittes Mal in den Arm stechen muss – und schläft dann ein. Seine Mutter rutscht auf dem roten Stuhl neben ihm hin und her.
Um 10.50 Uhr trägt Awah Christ in den OP-Saal. Für Dr. Ngounou ist es die erste von 15 Katarakt-Operationen an diesem Vormittag, an manchen Tagen sind es 35. Er faltet die Hände, schickt ein kurzes Gebet gen Himmel. „Bei Kindern weiß man nie, was passiert“, sagt er und rückt das Mikroskop zurecht, unter dem er gleich das Skalpell für einen winzigen Schnitt ansetzen wird. Knapp eine halbe Stunde dauert es in der Regel, die trübe Linse aus dem Auge zu entfernen und durch eine Plastiklinse zu ersetzen. Sie wird gefaltet in den Linsensack geschoben, Millimeterarbeit. Ngounou zögert, die Linse entfaltet sich nicht in Christs linkem Auge, er muss sie wieder herausnehmen. „Das ist noch nie passiert“, sagt er. Eine Dreiviertelstunde später näht er mit einem haardünnen Faden den Schnitt zu, die Linse sitzt. Im rechten Auge geht alles glatt, um 12.16 Uhr verklebt eine Schwester das Auge mit einem dicken Verband und einer schützenden Plastik-Augenklappe.
Wird Christ nach Farben gefragt, kann er sie nicht benennen. Wie auch.
Als Christ eine Stunde später aus der Narkose aufwacht, plappert er gut gelaunt los: „Bonjour, Bonjour.“ Er hat Hunger, trinkt einen Schluck Orangenlimo, mampft Kartoffeln mit Soße. Dann will er die Oma anrufen und ihr erzählen, dass er in einem sehr guten Krankenhaus ist und einen Schulrucksack geschenkt bekommen hat, ein Schulheft und Malstifte.
Am nächsten Morgen sitzt Christ erwartungsvoll auf der Bettkante und wartet auf Dr. Ngounou, der ihm die Verbände abnimmt. „Es ist immer wieder ein bewegender Moment“, sagt der Mediziner und streichelt Christ über den Kopf. Der versucht, die Augen zu öffnen, blinzelt, greift nach dem Becher Trinkjoghurt, den ihm Dr. Ngounou reicht. Seine Augen huschen unruhig hin und her, als er die drei Finger fixieren will, die ihm der Arzt vors Gesicht hält. Plötzlich ruft er aufgeregt: „Papa Doktor, ich kann sehen!“
In über 90 Prozent aller Fälle ist eine Katarakt-Operation erfolgreich. Wie viel Sehkraft ein Patient danach hat, hängt vom Alter ab und von Vorerkrankungen. Christ kann sehen, das schon. Aber er hat noch einen langen Weg vor sich, alle zwei Stunden bekommt er Tropfen in die Augen. Die Schnitte müssen verheilen, die Trübung der Linsen muss aufklaren, sein Gehirn muss die neuen Eindrücke verarbeiten, vieles erst lernen. Wird Christ nach Farben gefragt, kann er sie nicht benennen. Wie auch. Er weiß nicht, wie Blau aussieht oder Rot. All das dauert. Auch eine Brille wird er sein Leben lang brauchen.
Zwei Tage später darf Christ nach Hause, das halbe Dorf erwartet ihn, feiert ihn wie einen Fußballstar. Die neue Brille sitzt auf der Nase, seinen Schulrucksack legt er auch daheim nicht ab. Er hat schon im Krankenzimmer Fußball gespielt, hat den quietschbunten Ball, der im Rucksack steckte, in die Ecke getreten. Daheim im Hof schießt er ihn ins Bohnenbeet. Juchzt, rennt ihm hinterher und ruft: „Ich kann dich sehen! Du kannst mir jetzt nicht mehr weglaufen.“
Weitere Informationen unter www.cbm.de
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