Es sind rund 50 Minuten gespielt in der Kreisligapartie zwischen dem TSV Pöttmes und dem FC Affing, als es zu einem rüden Foul und einer Rudelbildung kommt. An sich nichts Besonderes, das passiert auf deutschen Fußballplätzen regelmäßig. Doch was der Schiedsrichter dann macht, ist neu: Er pfeift und kreuzt die Arme in der Luft. Zeichen für die sogenannte Beruhigungspause. „Geht in die Strafräume!“, schallt es über den Platz. Etwas widerstrebend machen sich die Spieler auf den Weg. Die einen nach rechts, die anderen nach links, die Kapitäne bleiben beim Schiedsrichter. Nach etwa zehn Minuten geht es weiter. Es ist eine neue Maßnahme des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und seiner Landesverbände, um Gewalt auf dem Sportplatz, gerade gegen Schiedsrichter, einzudämmen. Denn die Referees sind immer wieder Attacken ausgesetzt.
„Torwart schlägt Schiedsrichter zu Boden“ oder „Nach Spielabbruch: Zuschauer prügelt auf Schiedsrichter ein“ – solche und ähnliche Schlagzeilen sind nahezu wöchentlich zu lesen. Und das Gefühl trügt nicht: In der vergangenen Saison wurden bundesweit knapp über 900 Spiele wegen eines Gewaltvorfalls abgebrochen. Das sind zwar etwas weniger als in der Vorsaison (961), aber deutlich mehr als vor der Corona-Pandemie. In der Saison 2018/2019 waren es noch 685 abgebrochene Spiele. Meist geht solchen Fällen Gewalt gegen die Schiedsrichter voraus. Wie aus dem jährlich erhobenen DFB-Lagebericht Amateurfußball hervorgeht, gab es in der vergangenen Saison etwa 2500 Spiele, in denen der Schiedsrichter als „Geschädigter“ gemeldet wurde.
Auch in Augsburg kommt es zur Gewalt gegen Schiedsrichter
Einer, der solch eine Szene erlebt hat, ist Erhan Özcan. Es ist eine hitzige Partie an jenem Tag im Mai 2023. Auf einem Augsburger Sportplatz droht einer der Mannschaften der Abstieg, entsprechend (über)motiviert gehen die Spieler zur Sache. Özcan hat als Schiedsrichter viel zu tun. Als ein Spieler in Höhe der Trainerbänke einen Gegenspieler umgrätscht, pfeift er ab.
Der Übeltäter ruft Özcan auf dem Boden liegend einen Spruch weit unter der Gürtellinie zu, wie dieser sich gut ein Jahr später erinnert. Der junge Unparteiische zögert nicht, er zeigt dem Mann die Rote Karte. „Dann ist er auf mich zugerannt, hat mich weiter beleidigt.“ Doch damit nicht genug: Der Spieler holt aus und schlägt Özcan die Karte aus der Hand. Etwas, das der heute 21-Jährige noch nie erlebt hat. Eigentlich sollen Schiedsrichter nach einem solchen tätlichen Angriff das Spiel abbrechen. „Ich war aber so perplex, dass ich einfach hab weiterspielen lassen.“ Aber erst, nachdem der Täter minutenlang schimpfend den Platz verlassen hatte. Es ist einer jener Fälle, die nicht als Spielabbruch in den Lagebericht Amateurfußball eingegangen sind.
Über 900 Fußballspiele wurden in der Saison 2023/24 wegen Gewalt abgebrochen
Der Bericht erfasst in der Tat nicht alle Vorfälle, wie die Tübinger Kriminologin Thaya Vester weiß. Zum Beispiel seien Mehrfachnennungen bei einem Spiel nicht vorgesehen. Außerdem würden Referees Vorfälle teils gar nicht melden, weil es ihnen zu banal erscheine. „Es ist nur die Spitze des Eisbergs, die tatsächlich gemeldet wird“, konstatiert Vester.
In der Stadt verlaufen die Spiele hitziger als auf dem Land
Dass in Sachen Gewalt der Fußball im Vergleich zu anderen Sportarten hervorsticht, hat in erster Linie mit den sozialen Hintergründen der Akteure zu tun. „Fußball ist sehr niedrigschwellig. Es treffen Bevölkerungsgruppen aufeinander, bei denen das in anderen gesellschaftlichen Kontexten so nicht der Fall ist“, sagt Vester. Dazu komme ein Stadt-Land-Gefälle, was die Gewalt gegen Schiedsrichter angeht. Auf dem Land kenne man sich, die Hürden zur Gewalt seien hier höher, sagt Vester. „Im Zweifel trifft man sich wenig später ja wieder.“ Durch die größere Anonymität in der Stadt sei die Schwelle hier nicht ganz so hoch. Dazu komme, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in den Teams dort höher sei und diese überproportional häufig an solchen Auseinandersetzungen beteiligt seien. „Das hat nicht zuletzt soziale Hintergründe, weil sie oft schlechter gebildet sind und schwierige Lebenslagen haben“, sagt Vester.
Egal, ob in der Stadt oder auf dem Land, Gewalt hinterlässt ihre Spuren. Laut Vester gibt es viele Unparteiische, die mit solchen Vorfällen nicht klarkommen und das Hobby an den Nagel hängen. Aber auch in denjenigen, die dabeibleiben, löst das Geschehen etwas aus. So wie bei Schiedsrichter Erhan Özcan. „Direkt nach der Partie habe ich im Auto gesessen und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich hatte Angst und dachte mir, da hätte noch viel mehr passieren können.“ Sofort nahm er Kontakt zu seinem Betreuer auf. „Der hat mir Hilfe angeboten, das war wirklich vorbildlich.“ In den folgenden Wochen habe er immer wieder über das Geschehene nachgedacht, vor allem dann, wenn er nicht beschäftigt war. „Ich habe mir auch Vorwürfe gemacht und überlegt, ob ich etwas anders hätte machen sollen.“ Sein Obmann habe ihm Mut gemacht. „Nach einiger Zeit konnte ich dann mit dem Thema abschließen.“ Unsicher fühle er sich auf dem Platz nicht, sagt er. Auch, weil bei jedem Spiel Ordner dabei sind, um den Schiedsrichter im Fall der Fälle zu schützen.
Nach der Corona-Pandemie steigt die Verunsicherung bei den Spielern
Die oberflächliche Ursache für Gewalt gegen Schiedsrichter ist laut Kriminologin Vester oft eine mangelnde Regelkunde bei den Spielern, die sich ob der Entscheidungen des Unparteiischen ungerecht behandelt fühlen. Studien über die Motivation der Täter gebe es aber nicht. Grund genug, bei jemandem anzurufen, der oft mit diesen zu tun hat. Nikos Arvanitis führt für den Bayerischen Fußballverband (BFV) Anti-Gewalt-Kurse durch. Deren Besuch ist meist Auflage von Sportgerichtsurteilen. Rund 70 dieser Kurse hat er seit deren Einführung im Jahr 2014 angeboten. Meist sind es Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die vor ihm sitzen und erst einmal die Schuld beim Unparteiischen suchen. „Die wissen zwar oft, dass sie Mist gebaut haben. Aber trotzdem sehen sie die Verantwortung beim Schiedsrichter.“
Manchmal sind die Erklärungen skurril. „Einer hat mir erzählt, dass er sich unter dem Flutlicht wie in einem Champions-League-Spiel gefühlt habe.“ Und das bei einem Abendspiel in der Kreisklasse. Der Anti-Gewaltcoach nimmt oft eine Übersteigerung dessen wahr, worum es eigentlich geht. „Ich sage dann immer: Es ist nur Fußball.“ Außerdem versucht er seinem Gegenüber klarzumachen, wie schwer der Job als Schiri ist. Etwas, worüber sich kaum einer seiner „Patienten“ Gedanken mache. Im Gesprächsverlauf kommen schließlich meist die tieferliegenden Gründe für die Gewalt auf den Tisch: die persönliche Situation. „Das sind oft Leute, die Probleme im Beruf oder im Privatleben haben.“ Und ja, nicht zuletzt die gesamtgesellschaftliche Situation mit Krieg und Krisen spiele eine Rolle. Arvanitis spürt in seinen Gesprächen eine deutlich größere Verunsicherung als noch vor einigen Jahren, insbesondere im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Forscherin Vester sieht deshalb auch die Politik in der Pflicht. „Es müssten mehr Mittel für Gewaltprävention im Fußball bereitgestellt werden, die Verbände können nicht alles leisten.“
„Meet the Ref“ versucht Verständnis bei Spielern und Schiedsrichtern zu wecken
Zahlen aus einem Pilotprojekt des Landesverbandes Württemberg zeigen, dass die Beruhigungspause zumindest eine Hilfe sein könnte. So sank die Zahl der gewaltbedingten Spielabbrüche in den ersten Monaten der Saison 2022/23 im Vergleich zum Vorjahr von 40 auf 25. Für Bayern liegen noch keine offiziellen Zahlen vor. Auch die Regel, dass nur der Kapitän mit dem Schiedsrichter sprechen darf, soll ab dieser Saison ihren Teil zu friedlichen Spielen beitragen. „Das sind mit Sicherheit Maßnahmen, die einen Effekt haben können“, lobt Vester.
Der BFV wiederum erteilt anderen Schritten eine Absage, zum Beispiel verpflichtenden Schiedsrichterkursen für Gewalttäter. „Davon, den Spielern etwas vorzuschreiben, halten wir nichts“, sagt Pressesprecher Fabian Frühwirth. In anderen Landesverbänden gibt es solche Modelle, um einen Perspektivwechsel zu ermöglichen.
Ein solcher Perspektivwechsel steht an einem Septemberabend beim DJK Beucherling in der Oberpfalz im Mittelpunkt. Es werden Bier und Spezi gereicht, die Gespräche der rund 30 Besucher an den hellen Holztischen des schmucken Sportheims drehen sich heute nicht in erster Linie darum, wie das nächste Spiel ausgeht. Stattdessen geht es um das Verhältnis von Schiedsrichtern und Spielern. Die Philipp-Lahm-Stiftung hat gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit zur Veranstaltung „Meet the Ref“ eingeladen.
In Beucherling spielt unter anderem die Frage eine Rolle, warum es auf dem Feld immer wieder kracht. Abseitsentscheidungen seien der Hauptgrund für Ärger, sagen mehrere Spieler. „Mich ärgert es aber auch immer wieder, wenn Schiedsrichter nach dem Spiel dem Gespräch aus dem Weg gehen, das kommt einfach arrogant rüber“, meint einer. Der 20-jährige Schiedsrichter Onaitanya Joshi versucht, Verständnis zu wecken. „Wir sind oft in einem Tunnel und müssen direkt nach dem Spiel noch den Spielbericht verfassen.“ Besser sei es, das Gespräch erst danach zu suchen.
Von solchen Gesprächen weiß sein Schiedsrichterkollege Erhan Özcan ebenfalls zu berichten. „Da sagen Spieler auch mal, dass sie manche Sprüche nicht so gemeint haben und entschuldigen sich.“ Der Spieler, der ihn vor anderthalb Jahren in Augsburg angriff, habe das aber bis heute nicht geschafft. Özcan ficht das nicht an. „Mir macht es weiterhin einfach Spaß, Schiedsrichter zu sein.“
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden