Das Video ist kurz, die Bilder sind unscharf. Die Aufnahmen zeigen, wie Julian Assange in hellem Hemd und Jeans auf dem Flughafen Stansted nördlich von London in ein Privatjet steigt. Das Ziel ist sein Heimatland Australien – und damit die Freiheit.
Über Jahre hinweg hat die Weltöffentlichkeit den Spionagefall um den Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks verfolgt, eigentlich stand Anfang Juli ein weiteres Berufungsverfahren vor einem Gericht in der britischen Metropole an, bei dem erneut darüber verhandelt werden sollte, ob der 52-Jährige an die USA ausgeliefert werden darf. Die juristische Saga, sie schien kein Ende zu nehmen. Dann ist Montag, ein freundlicher, milder Tag, und plötzlich geht alles ganz schnell. Am Nachmittag verlässt der Australier still und heimlich die Hauptstadt – nach exakt 1901 Tagen in einem Hochsicherheitsgefängnis und sieben Jahren in der ecuadorianischen Botschaft. Gefilmt wird er dabei nicht etwa von Medienleuten, sondern von seinen Unterstützern, die das Video in der Nacht zum Dienstag auf der Plattform X teilen.
Die Söhne von Julian Assange haben ihren Vater noch nie außerhalb des Gefängnisses gesehen
Der Clip verbreitet sich schnell in der ganzen Welt. Und gut 15.000 Kilometer entfernt im australischen Sydney erzählt Stella Assange der BBC, wie sie die Nachricht von der Freilassung ihres Mannes erfahren habe. Dass die Ereignisse einen „Sturm der Gefühle" bei ihr ausgelöst hätten. Und dass sie den zwei gemeinsamen Söhnen, die ihren Vater noch nie außerhalb des Gefängnisses gesehen haben, nur gesagt habe, "dass es eine riesige Überraschung gibt".
Nun also haben die Anwälte von Julian Assange und Justiz-Vertreter der Vereinigten Staaten das vereinbart, was man in der Juristerei so lapidar einen Deal nennt. Demnach soll Assange bereits an diesem Mittwoch vor einem Gericht in einem abgelegenen US-Außengebiet erscheinen – auf den Marianen-Inseln nördlich von Australien, keine 50.000 Einwohner. Dort, so heißt es, will er sich in einem Punkt der Spionage schuldig bekennen und würde dann zu fünf Jahren Haft verurteilt werden. Das entspricht jener Zeit, die er bereits in London abgesessen hat. „Wir gehen davon aus, dass er ein freier Mann sein wird, sobald er vor Gericht erschienen ist”, sagt Stella Assange.
Damit endet wohl ein komplizierter und langwieriger Rechtsstreit, der 2010 seinen Anfang nahm. Damals veröffentlichte die von dem Australier mitgegründete Plattform Wikileaks brisante Geheimdokumente von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan, die unter anderem die Tötung von Zivilisten belegten. Die USA werfen ihm vor, damit das Leben von amerikanischen Informanten in Gefahr gebracht zu haben. Assanges Unterstützer sehen ihn hingegen wegen des Aufdeckens von Kriegsverbrechen im Visier der Justiz aus Washington. Bei einer Verurteilung ohne eine Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft könnten Assange wegen Spionage bis zu 175 Jahre Haft drohen.
Als ebenfalls 2010 in Schweden Ermittlungen gegen ihn wegen Sexualdelikten wiederaufgenommen wurden, flüchtete Assange nach Großbritannien. Er befürchtete im Falle einer Verurteilung, an die USA ausgeliefert zu werden. Nachdem seine Bemühungen um eine Berufung gegen das Auslieferungsurteil nach Schweden im Jahr 2012 scheiterten, sah er nur noch einen Ausweg: Er klopfte an der Tür der ecuadorianischen Botschaft in London, bat um politisches Asyl und erhielt Einlass. Manchmal bewegte sich ein Vorhang, doch ihn selbst bekam man nur selten zu Gesicht. Assange wurde zum berühmtesten Geflüchteten überhaupt.
Seit 2019 saß Assange in einer drei mal zwei Meter großen Gefängniszelle
2019 entzog ihm Ecuador das Asyl, Assange wurde verhaftet. Seitdem saß er in einer drei mal zwei Meter großen Zelle im Belmarsh-Gefängnis und wartete auf den "P-Day". So nannte er den Stichtag seiner möglichen Auslieferung an die USA. Die Abkürzung steht für „plane" – Flugzeug. An diesem Montag besteigt Assange nun tatsächlich einen Charterflieger, doch der bringt ihn nicht in die USA, sondern zunächst nach Thailand, von wo aus es dann auf die Marianen geht. Journalisten bekommen ihn am Flughafen in Bangkok erneut nicht vor die Kameras. Ein von Wikileaks veröffentlichtes Video zeigt ihn, wie er lächelnd aus dem Fenster des Flugzeugs schaut. Gesundheitlich sei er in keiner guten Verfassung, sagt Stella Assange.
Die weltweiten Reaktionen auf das vermeintliche Ende dieser Spionage-Geschichte sind überwiegend positiv. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt am Rande eines Besuchs im oberpfälzischen Weiden: "Ich bin froh darüber, dass dieser Fall offensichtlich mit Absprachen gelöst worden ist und Assange den Arrest verlassen durfte." Auch Außenministerin Annalena Baerbock begrüßt die Grundsatzeinigung. Und in den USA? Nun, niemand kann sich seine Unterstützer aussuchen. Aber es ist schon auffällig, welche politische Schlagseite dort die lautstarken Reaktionen haben. "Tolle Neuigkeiten", jubelt die rechtsradikale Abgeordnete Marjorie Taylor Greene auf der Plattform X. "Gelobt sei Gott, dass er Julian freigelassen hat!" Auch Kari Lake, die bei den Gouverneurswahlen in Arizona gescheiterte Hardcore-Trumpistin, ist begeistert: "Whoa!", postet sie und dahinter drei klatschende Hände. Der rechte TV-Propagandist Tucker Carlson, der selbst für Fox News zu extrem gewesen war, feiert Assange als "guten Mann" und unkt: "Die Gezeiten wechseln!" Von führenden Demokraten oder gar dem Weißen Haus ist hingegen zunächst nichts zu hören.
Das eigenartige Stimmungsbild kommt nicht überraschend. Mehr noch als anderswo in der Welt polarisiert Assange in den USA. Die Regierungen von Barack Obama, Donald Trump und Joe Biden sahen ihn offiziell als Spion und Verräter. Rechte Verschwörungsideologen hingegen feiern ihn als Verbündeten im Kampf gegen den "Deep State". Moderatere Stimmen wiederum werten seine Inhaftierung als Dammbruch und Gefahr für den investigativen Journalismus.
Doch das Bild von Assange in den USA wird überlagert von dessen fragwürdigem Engagement im Wahlkampf 2016, als Wikileaks Zehntausende vertrauliche Dokumente veröffentlichte, die bei den Demokraten gestohlen worden waren und deren Präsidentschaftsbewerberin Hillary Clinton eindeutig schadeten. Nach Erkenntnissen des Sonderermittlers Robert Mueller waren die Unterlagen von russischen Hackern entwendet worden. Auch soll es Absprachen zwischen Assange und der Trump-Familie zu den Veröffentlichungen gegeben haben. "Wikileaks! Ich liebe Wikileaks!", rief Donald Trump damals im Wahlkampf.
Präsident Joe Biden befand sich im Fall Assange in einem Dilemma
Der damalige CIA-Direktor Mike Pompeo sah das anders. Er stufte Wikileaks als "nichtstaatlichen feindlichen Geheimdienst" ein. Im Jahr 2019 eröffneten die USA die offizielle Anklage. Heute scheint nur noch der damalige Vizepräsident Mike Pence bedingungslos dahinterzustehen. "Julian Assange hat das Leben unserer Soldaten in Kriegszeiten gefährdet und hätte im vollen Umfang des Gesetzes strafrechtlich verfolgt werden müssen", postet er auf X.
Präsident Biden befand sich in einem Dilemma. Bei seinem Besuch im vergangenen Oktober hatte der australische Premierminister Anthony Albanese nach US-Medienberichten darauf gedrängt, den Fall beizulegen. Republikanische Abgeordnete machten Druck. Auch namhafte Presseorgane, darunter die New York Times, forderten aus Sorge vor einer Gefährdung des investigativen Journalismus, die Anklage fallenzulassen.
Im März berichtete das Wall Street Journal über Gespräche zwischen dem US-Justizministerium und den Anwälten von Assange. Doch ein möglicher Deal stieß auf zwei Schwierigkeiten: Assange wollte keinesfalls US-Staatsgebiet betreten. Die Staatsanwaltschaft aber wollte sein Vergehen nicht zur Ordnungswidrigkeit herunterstufen. Das jetzige Verfahren stellt einen Kompromiss dar: Assange bleibt die Einreise aufs US-Festland in den Bundesstaat Virginia erspart, wo sein Fall anhängig ist. Stattdessen soll er sich eben in einem US-Außengebiet – quasi auf dem Heimweg nach Australien – wegen eines Verstoßes gegen das Spionagegesetz schuldig bekennen.
Julian Assange wird mit seiner Familie wohl künftig in Australien leben
Mit dem Deal kann die Biden-Regierung das jahrelange Justizdrama gesichtswahrend beenden. Zugleich verlieren die Herausforderer des Präsidenten im Wahlkampf ein mögliches Thema. Trump hatte in einem Interview zuletzt angedeutet, dass er Assange nach einem möglichen Wiedereinzug ins Weiße Haus begnadigen wolle. Der unabhängige Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy hat die Freilassung Assanges und anderer Whistleblower sogar zu einem zentralen Versprechen gemacht. "Assange ist ein Held", sagte dessen Vize-Kandidatin Nicole Shanahan vor wenigen Tagen in einem Interview. "Trump hatte eine Chance, ihn zu begnadigen, und hat es nicht getan. Robert F. Kennedy wird es machen."
Und wie geht es für Julian Assange weiter? Nach Angaben seiner Frau wird er künftig mit der Familie in Australien leben. Assange müsse zunächst „wieder gesund werden”, sagt sie. Sie freuten sich darauf, nun Zeit und Privatsphäre zu haben – und wollen „ein neues Kapitel” aufschlagen.