Sie war bis jetzt so ruhig, so bemerkenswert kontrolliert, aber am Ende dieses strapaziösen Verhandlungstages platzt Gisèle Pelicot der Kragen. Seit sie an diesem Mittwochmorgen den Gerichtssaal betreten habe, fühle sie sich erniedrigt, klagt die zierliche Frau. Sie hebt die Stimme. „Es braucht einen gewissen Grad an Geduld, um all das zu ertragen, was ich mir heute anhören musste.“ Eine Alkoholikerin habe man sie genannt, die es in ihrer Trunkenheit nicht gemerkt habe, als sie vergewaltigt wurde. Eine Exhibitionistin sei sie, nur weil sie nackt im Pool in ihrem Garten gebadet habe, ja was denn noch? „Ich habe das Gefühl, dass ich hier die Schuldige bin. Und dass 50 Opfer hinter mir sitzen.“ Ob die 50 Männer vielleicht mit ihr tauschen wollten?, fragt sie beißend.
Die Männer, die sie meint, sitzen aufgereiht auf Anklagebänken im Gerichtssaal in Avignon; ihnen drohen lange Haftstrafen. Gisèle Pelicot selbst ist Zivilklägerin und Opfer unvorstellbar furchtbarer Taten. Das steht fest, auch wenn der Prozess die Schuld eines jeden einzelnen Angeklagten erst noch klären muss.
Tausende demonstrierten in Frankreich zuletzt gegen die „Kultur der Vergewaltigung“
Tatsächlich merkte es die 71-jährige Rentnerin offensichtlich mehr als neun Jahre nicht, dass Unbekannte sich in ihrem Schlafzimmer im südfranzösischen Örtchen Mazan an ihr vergingen. Ihr Ehemann Dominique, von dem sie inzwischen geschieden ist, hatte sie vorher medikamentös betäubt. Immer und immer wieder. Über eine spezielle Internetseite, die erst vor Kurzem verboten und geschlossen wurde, hatte er die Fremden eingeladen. „Ohne ihr Wissen“ lautete der Chatbereich, den er erstellte, um sich mit anderen Männern über sexuelle Fantasien auszutauschen – und sie Realität werden zu lassen.
Der weltweit beachtete Prozess hat in Frankreich Entsetzen ausgelöst. Doch dabei, und das geschieht nicht oft, blieb es nicht. Er setzte eine Debatte in Gang über sexualisierte Gewalt gegen Frauen und den Umgang damit, am vergangenen Wochenende demonstrierten landesweit Tausende gegen eine „Kultur der Vergewaltigung“. „Wir sind alle Gisèle“, stand auf Plakaten. Auf anderen wurde sie mit ihrem rötlichen Pagenkopf und ihrer Sonnenbrille abgebildet. Auch wenn sie das sicher nie wollte – Gisèle Pelicot entwickelt sich zu einer Art Ikone, zu einer Heldin für Frauen in aller Welt. Auf dem Weg in den Gerichtssaal und auf dem Weg hinaus wird sie von Applaus begleitet.
Pelicots Ex-Mann dokumentierte die Taten, die Beweislast gegen ihn ist erdrückend. Im Herbst 2020 war der Rentner in einem Supermarkt erwischt worden, als er Frauen unter den Rock filmte. Bei der Untersuchung seiner Handys, Computer und Festplatten stießen die Ermittler auf mehr als 20.000 Videos und Fotos, die den schweren Missbrauch seiner bewusstlosen Frau zeigten. Das Material gehöre zum Schlimmsten, was er bisher gesehen habe – und er sehe viel Schlimmes, sagte ein Polizist der französischen Presse.
Von den 83 Männern, die in den Videos auftauchen, konnten 49 festgenommen werden. Sie sitzen nun in dem Gerichtssaal in Avignon, ebenso wie Gisèle Pelicots Ex-Mann als Drahtzieher. Zudem ein Mann, der sie nicht vergewaltigte, sondern seiner eigenen Frau dasselbe antat – gemeinsam mit Dominique Pelicot. Dieser hatte ihm die Medikamente verschafft, um sie bewusstlos zu machen.
Allein durch die Zahl der Angeklagten handelt es sich um einen Mammut-Prozess. Die Verhandlung ist auf mehr als drei Monate angesetzt, bis Mitte Dezember. Außergewöhnlich ist er auch aufgrund der vermeintlichen Normalität der Angeklagten. Sie sind heute zwischen 26 und 74 Jahre alt und von Beruf Krankenpfleger, Fernfahrer oder Feuerwehrmann. Alle stammen aus der Region, einen von ihnen traf Gisèle Pelicot ab und zu beim Bäcker. Viele haben Kinder, galten als „brave Familienväter“. Wie Dominique Pelicot. Einer der Männer kam am ersten Prozesstag zu spät, es war der Tag der Einschulung: Er habe seinen Sohn zum Unterricht gebracht, bat er um Entschuldigung.
35 von 49 Angeklagten weisen den Vorwurf der Vergewaltigung von sich
Einige der Angeklagten sind der Justiz bekannt gewesen, unter anderem wegen Gewalt gegen Frauen. Bei manchen wurde kinderpornografisches Material gefunden. Aber bei der großen Mehrheit handelte es sich eben um Männer aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. „Die Leute entdecken, dass Vergewaltiger nach außen keine Monster sind, sondern ihre Nachbarn“, sagt die sozialistische Senatorin Laurence Rossignol, die sich seit Jahren im Kampf gegen sexuelle Gewalt engagiert. Die allermeisten Fälle geschehen im familiären Umfeld oder im Bekanntenkreis, betont sie. Der Prozess zeige, dass „unsere Gesellschaft extrem tolerant gegenüber Vergewaltigungen ist und dass viele Männer noch nicht verstanden haben, was Einverständnis bedeutet“.
In Avignon weisen 35 von 49 Angeklagten den Vorwurf der Vergewaltigung von sich. Manche sagten bereits, ihnen habe die Erlaubnis des Ehemanns gereicht. Andere erklärten, sie seien in eine Falle getappt. Sie hätten gedacht, es sei ein Sex-Spiel, bei dem sich die Frau nur schlafend stelle. Anwälte der Männer gehen Gisèle Pelicot teils offensiv an. Zwei beantragen, dass anzügliche Fotos von ihr gezeigt werden, in Unterwäsche, nackt. Ob diese „sehr expliziten Bilder“ nicht auf eine gewisse sexuelle Offenheit, einen Hang zum Exhibitionismus hinweisen?, sagt eine Verteidigerin. Pelicot erwidert, sie erinnere sich an nichts, aber wehre sich gegen die Unterstellung, sie habe die Männer angelockt. „Ich kann die Vergewaltigungsopfer verstehen, die nicht Klage einreichen; ihr Leben wird seziert, sie werden erniedrigt.“ Sie wird laut.
Ihr Ex-Mann bestätigt das Abscheuliche: Sie habe nie gemerkt, dass er sie fotografiert habe. Darüber hinaus seien alle Beschuldigten vollständig über den bewusstlosen Zustand seiner Frau informiert gewesen, erklärt er vor wenigen Tagen überraschend in einem umfassenden Geständnis. Die anderen Beschuldigten fordert er auf, ebenfalls Verantwortung zu übernehmen. „Ich bin ein Vergewaltiger, genauso wie die Angeklagten in diesem Saal“, sind seine Worte. Er habe seine Ex-Frau während ihrer 50 Jahre dauernden Ehe „wahnsinnig geliebt“ und bitte sie um Verzeihung im Wissen, dass seine Taten unverzeihlich seien. Gisèle Pelicot hört zu, ihm körperlich zugewandt, doch ohne erkennbare Reaktion.
Außergewöhnlich an dem Prozess sind auch und vor allem ihr unerschrockenes Auftreten – und ihre Entscheidung, nicht anonym zu bleiben. Sie hat auf eine öffentliche Verhandlung bestanden. Während sich die Angeklagten hinter weiten Jacken, Kapuzenpullis und Gesichtsmasken verstecken, erscheint sie an jedem Verhandlungstag elegant gekleidet, ihre Sonnenbrille legt sie später meist ab. „Ich will mich nicht verstecken“, sagt sie. „Die Scham muss das Lager wechseln“, betonen ihre Anwälte. Ihre Kinder und Enkel halten sie für den „Mut in Person“.
„Dank euch allen habe ich die Kraft, diesen Kampf bis zum Ende zu führen“
Mit ihrer Courage hat die Rentnerin etwas angestoßen in Frankreich. An einem Morgen hat sie Dankesworte an alle vorbereitet, die sie unterstützen. Sie liest sie vor laufenden Kameras ab: „Ich bin zutiefst berührt von dieser Bewegung, die mir eine Verantwortung überträgt. Dank euch allen habe ich die Kraft, diesen Kampf bis zum Ende zu führen.“ Sie führe ihn für alle Opfer von sexueller Gewalt, Frauen wie Männer.
In Frankreich gab es in den vergangenen Jahren immer wieder aufsehenerregende Fälle. Die betrafen meist berühmte Männer aus einer scheinbar anderen, abgehobenen Welt. Die Liste ist lang und wird länger: Der Schauspieler Gérard Depardieu muss sich demnächst vor Gericht wegen mutmaßlicher sexueller Übergriffe verantworten. Zudem sieht er sich Vergewaltigungsvorwürfen gegenüber. Vor einigen Monaten erst kamen Anschuldigungen gegen mehrere Regisseure auf, angestoßen durch die Schauspielerin Judith Godrèche, der sich Kolleginnen aus dem Kino-Milieu anschlossen. Zuletzt warfen Enthüllungen über sexuellen Missbrauch ein dunkles Licht auf den 2007 gestorbenen Geistlichen Abbé Pierre, den bislang so verehrten Gründer von Wohltätigkeitsorganisatoren.
Nun aber geht es um „Normalos“, die das Angebot, sich gratis an einem wehrlosen Frauenkörper zu vergehen, nicht ausschlugen. Die sich, wie es scheint, keine weiteren Fragen über ihr Tun oder über die Folgen für das Opfer stellten.
Die #MeToo-Bewegung in Frankreich erhalte „neuen Sauerstoff“
„Anhand von diesem Fall lässt sich aufzeigen, wie systematisch das Patriarchat funktioniert“, sagt die Autorin, Journalistin und Herausgeberin der feministischen „Medusablätter“, Cécile Calla. „Das bedeutet nicht, dass alle Männer Vergewaltiger sind, aber es zeigt, dass immer noch die Haltung verbreitet ist, dass Männer über den Körper der Frauen verfügen können.“ Die #MeToo-Bewegung in Frankreich erhalte jetzt „neuen Sauerstoff“. Sie hoffe, dass sich anders als bisher mehr Männer an den Debatten und den Kundgebungen beteiligten. Dafür gebe es zumindest erste Anzeichen. Wichtig sei auch, so Calla, die Transparenz von Gisèle Pelicot, die vehement dem Vorwurf entgegentrete, dass bei sexueller Gewalt gegen Frauen diese einen Teil der Verantwortung trügen. „Sie zeigt klar, dass sie sich nichts vorzuwerfen hat und bei wem die Schuld liegt.“
Für Gisèle Pelicot war es unmöglich, sich zu wehren – sie wurde, das belegen die Videos, sediert. Und das mutmaßlich von einer absoluten Vertrauensperson, ihrem damaligen Mann. Auch das macht sie, macht der Prozess deutlich: Vergewaltigungen passieren eher selten nachts in einsamen Parks. Viel zu oft schläft der Täter im eigenen Bett.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden