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Venedig: "Wir sind Fremde": Immer mehr Menschen verlassen Venedig

Venedig

"Wir sind Fremde": Immer mehr Menschen verlassen Venedig

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    Seit August leben weniger als 50.000 Menschen in Venedig. Matteo Secchi ist einer von ihnen.
    Seit August leben weniger als 50.000 Menschen in Venedig. Matteo Secchi ist einer von ihnen. Foto: Secchi

    Einen Steinwurf von der Rialtobrücke in Venedig entfernt liegt der Campo San Bartolomeo. Der Platz ist eine Art Nabel Venedigs, weit weniger bekannt als der bei den Touristinnen und Touristen so beliebte Markusplatz. Dort spielt sich das venezianische Leben ab, soweit es das noch gibt. Die Morelli-Apotheke an der Ostseite ist eine Institution der Stadt, ein in vierter Generation geführter Familienbetrieb. Im Schaufenster der

    2008 lebten noch rund 60.000 Menschen in Venedig

    Matteo Secchi hat den Zähler im März 2008 aufgestellt. „Wir waren mit Freunden beim Abendessen, haben über den Bevölkerungsschwund diskutiert und uns gefragt, wie man angesichts des Touristenansturms auf dieses Problem hinweisen kann“, erzählt der 52-Jährige. Die Freunde der Plattform venessia.com – nach eigenen Angaben das erste venezianische, soziale Netzwerk – fragten bei Apotheker Morelli an, der immer schon einen Sinn für die Stadtgeschichte hatte.

    Seither können sich die Venezianer im Schaufenster ihres langsamen Untergangs versichern, auch Reiseführer bringen ihre Gruppen hierher. „60.620“ zeigte die rote Punktanzeige damals an, so viele Menschen lebten 2008 noch in Venedig. Als die 60.000-Marke unterschritten wurde, organisierten Secchi und Co. ein „Begräbnis Venedigs“. Als 55.000 erreicht waren, packten 500 Demonstranten beim „Venexodus“ symbolisch ihre Koffer. Verständlicherweise wird man bei der Inszenierung des eigenen Untergangs über die Jahre ein wenig müde: Als vor ein paar Wochen die Zahl 49.999 aufleuchtete, hängten die Venezianer nur noch Plakate aus den Fenstern.

    30 Millionen Touristen jährlich: "Wir sind Fremde bei uns zu Hause"

    Knapp 30 Millionen Touristen kommen jährlich in die Stadt, für die Einheimischen, die 1951 noch 170.000 waren, wird das Leben immer ungemütlicher. Einkaufen ist schwierig, kleinere Läden gibt es kaum noch, die Mieten werden angesichts der zahllosen Touristenwohnungen immer teurer. „Wir sind umzingelt, wir sind Fremde bei uns zu Hause“, sagt Secchi, der heute als Portier im Hotel Ca’ D’Oro arbeitet, früher selbst ein Hotel führte und damit in gewisser Weise auch seinen Teil zur Metamorphose der Stadt beiträgt. „Venedig wird von den Venezianern ausverkauft, wir wollen Business machen und bringen uns auf diese Weise um“, sagt er. Der 2020 gestorbene Stefano Soffiato, Gründer von venessia.com, verkaufte ebenfalls Touristen-Nippes – und dokumentierte gleichzeitig den Verfall seiner Stadt.

    Wer also soll die Venezianer vor sich selbst retten? Wer bleiben will, hat kaum eine andere Möglichkeit, als im Tourismus zu arbeiten. „Die Stadt ist ein Fake, es fehlt das echte Leben“, sagt Secchi. Der Großteil der ehemaligen Stadtbevölkerung lebt heute auf dem Festland in Mestre oder Marghera, das gilt auch für 55 von 60 Stadträten. Es ist schlicht bequemer dort und billiger. Nach dem Hochwasser von 1966 gab es einen ganzen Schwung von Umzügen, seither tröpfelt es weiter. „Der moderne Venezianer lebt auf dem Festland und nutzt Venedig als Gelddruckmaschine“, behauptet Secchi. Denn die teuer an Touristen vermieteten Wohnungen gehören meist Venezianern, ebenso die zahllosen Immobilien, in denen heute Souvenirs oder Pizza verkauft werden. Die Politik? „Es gab Versuche, mehr Gleichheit für die Bevölkerung zu schaffen, aber letztlich sind alle gescheitert“, sagt Secchi.

    Förderung der Universität, um junge Menschen nach Venedig zu locken

    Ob es überhaupt eine Medizin für diese Stadt gibt, fragt man am besten einen Arzt oder Apotheker. Andrea Morelli, der den Einwohnerzähler in seinem Schaufenster beherbergt, hat gleich vier Ideen: Die Universität und der sie umgebende Kosmos müsse weiter gefördert und ausgebaut werden. So käme mehr Stadtkultur zustande, mehr junge Menschen kämen in die Stadt zum Leben. Die Stadtverwaltung solle zudem ein Minimum an Handwerksbetrieben halten und den ausufernden Immobilienmarkt mit Mietobergrenzen bremsen. Schließlich könnten auch die vielen verlassenen Klöster, Kirchen, Krankenhäuser und Kasernen neuen, sozialen und kulturellen Nutzungen zugeführt werden, meint der Apotheker.

    Bis es so weit ist, bedient auch er den traditionellen Markt. Die meistverkauften Produkte in seiner Apotheke? „Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und immer mehr Antidepressiva“, sagt er.

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