Herr Politi, Papst Franziskus hat sich kürzlich nach Wochen der Behandlung erstmals wieder öffentlich auf einem Balkon der Gemelli-Klinik in Rom gezeigt. Danach wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Der etwa anderthalbminütige Auftritt fiel ihm sichtlich schwer. Wie empfanden Sie die Szenen?
MARCO POLITI: Die Menschen, die sich vor dem Balkon versammelt hatten, waren sehr froh. Es war ein bisschen wie im Fußballstadion. „Francesco, Francesco, Francesco!“, wurde gerufen. Für diejenigen, die den Papst kennen, war es schockierend: Wie schwer er sich bewegen konnte, wie er nach Luft rang. Was er sagte, kam zerstückelt aus seinem Mund. Nur seine Augen waren lebendig. An dem Tag hat man auch gesehen, wie dickköpfig er ist.
Erzählen Sie!
POLITI: Er wollte nicht sofort zurück in den Vatikan. Er bat seinen Fahrer, ihn erst zur Basilika Santa Maria Maggiore zu bringen. Dort ließ er den Blumenstrauß, den er von einer Dame vor der Gemelli-Klinik bekommen hatte, an der Marienikone niederlegen. Das war eine symbolisch sehr starke Geste: Es ist ja die Ikone, die besonders das römische Volk beschützt und die er vor und nach Auslandsreisen aufsucht. Es war, als wollte er sagen, er sei von dieser schweren Reise, die sein Krankenhausaufenthalt für ihn bedeutete, zurückgekehrt. Zudem ist Santa Maria Maggiore die Kirche, in der er einmal beerdigt wird. Es war also wichtig für ihn, sie zu besuchen.
Es hieß, er habe gar nicht in die Klinik gewollt.
POLITI: Ja. Und dann wollte er nicht länger im Krankenhaus bleiben. Man hatte den Eindruck, seine Ärzte hätten ihn gerne länger dort behalten.
Zweimal entging er in den vergangenen Wochen knapp dem Tod, die Gefahr einer erneuten Lungenentzündung ist groß.
POLITI: Für Papst Franziskus fängt jetzt eine sehr schwere Zeit an. Er kann praktisch nicht mehr gehen, er kann kaum reden und muss das Sprechen neu lernen, wegen der Ansteckungsgefahr kann er keine Gruppen empfangen oder an Versammlungen teilnehmen. Er ist das nicht gewohnt, denn er ist ein Mann der Kommunikation, der Worte und der Gesten.
Wird er an den Osterfeierlichkeiten oder der Messe zur Heiligsprechung von Carlo Acutis, dem „Influencer Gottes“, im April teilnehmen können?
POLITI: Das ist offen. Ich würde sagen, man muss mindestens noch zwei Wochen abwarten, um zu sehen, ob er irgendwie dabei sein kann.
Kann er die Kirche überhaupt noch leiten?
POLITI: Kardinal Sandri hat dazu drei treffende Sätze gesagt: Franziskus könne lesen, er könne Dokumente studieren, er könne entscheiden. Er kann demnach ganz bestimmt anordnen, was getan werden muss, in seinen Kommunikationsmöglichkeiten ist er allerdings eingeschränkt.
Gibt es ein Führungsvakuum im Vatikan?
POLITI: Nein, es gibt kein Führungsvakuum. Seine engsten Mitarbeiter kümmern sich um die tägliche Arbeit, sie wird normal weitergehen. Es ist eine Qual für Franziskus, dass er nicht die Impulse geben kann, die er sonst gegeben hat – indem er spricht. Das ist etwas anderes als zu schreiben. Während er im Krankenhaus lag, hat er aber eine wichtige strategische Entscheidung getroffen.
Welche?
POLITI: Die nächsten drei Jahre sollen der Umsetzung des Schlussdokuments der Weltsynode gewidmet werden. Die Weltkirche muss sich an die Arbeit machen. Und im Jahr 2028 wird es eine große kirchliche Versammlung geben.
Bei dem Bischofstreffen in Rom ging es um mehr Teilhabe und Transparenz.
POLITI: In der gesamten Weltkirche soll ein Beratungssystem eingeführt werden. Natürlich kann man sagen: Wir in Europa kennen Pastoral-, Priester- oder Diözesanräte – in der gesamten Weltkirche sind sie nicht verwirklicht. Man muss allerorten verstehen, dass eine neue Ära beginnen muss. In der sind Bischöfe nicht mehr Alleinherrscher, nein, alle Gläubigen nehmen an der Verbreitung des Evangeliums teil. Genauso wie man überall verstehen muss, dass Frauen in Leitungspositionen kommen sollen. Dafür muss man bestimmte Regionen der Weltkirche stimulieren, damit sie die Macho-Mentalität abstreifen. Und: Es muss eine Rechenschaftspflicht eingeführt werden.
Kurienkardinal und Glaubenspräfekt Víctor Fernández sagte: „Der Papst ist ein Mann der Überraschungen und er wird nach dieser schweren Zeit noch etwas aus dem Hut zaubern.“ Was könnte er damit gemeint haben?
POLITI: Solange es Franziskus möglich ist, Dokumente zu lesen und zu hören, was in der Welt passiert, solange wird er für Überraschungen gut sein. Man wird sehen.
Er will noch etwas erreichen?
POLITI: Ja, doch niemand weiß, ob er in den nächsten Monaten wieder die Kräfte entwickeln wird, um normal zu regieren. Das ist die große Frage.
Zumal es ihm seine Gegner, Sie nennen sie „die Wölfe“, überaus schwer machen werden, oder?
POLITI: Die Wölfe arbeiten seit zehn Jahren gegen ihn, seit der Familiensynode. Seit dem Moment, in dem Franziskus wiederverheirateten Geschiedenen per Fußnote den Kommunionempfang ermöglichte, sind die Aggressionen der Ultrakonservativen immer weiter gegangen. Sie haben die Autorität des Papstes infrage gestellt oder ihn als Usurpator, als widerrechtlich Herrschenden, geschmäht. Andere haben Druck auf ihn ausgeübt, damit er sich zurückzieht.
Es wird viel über seinen möglichen Rücktritt spekuliert.
POLITI: Wenn man Druck auf Franziskus ausübt, sagt er: Nein, ich trete nicht zurück, das Petrusamt ist für immer! Es gab aber auch schon Momente, in denen er sagte: Wenn ich mich nicht kräftig genug fühle, dann ist es möglich, dass ich mich zurückziehe.
Stimmt es, dass Franziskus zu Beginn seines Pontifikats 2013 dem damaligen Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone eine unterschriebene Rücktrittserklärung übergab?
POLITI: Die gibt es, aber sie gilt sozusagen für den Katastrophenfall: ein Autounfall, ein Flugzeugunglück, Koma. Franziskus ist völlig klar, dass es nicht nur Leute gibt, die gegen ihn sind, sondern auch Leute, die wollen, dass er zurücktritt oder stirbt. Deswegen sagt er seit einem Jahr: Betet für mich – und nicht gegen mich!
Werden diese Wölfe Erfolg haben?
POLITI: Die Ultrakonservativen haben Erfolg gehabt, etwa beim Thema Frauendiakonat. Sie haben die Diskussion darüber vergiftet. Sie haben erfolgreich die Möglichkeit gestoppt, dass es verheiratete Priester im Amazonasgebiet gibt. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass sie im nächsten Konklave ihren oder einen konservativen Kandidaten als nächsten Papst durchsetzen könnten.

Weil sie nicht die Mehrheit der Kardinäle stellen, die den Papst wählen werden?
POLITI: Die Ultrakonservativen machen etwa 30 Prozent aus, die Reformorientierten etwa 20, 25 Prozent. Und dann gibt es eine breite, heterogene Mitte. Es ist diese Mitte, die entscheidend sein wird. Im Konklave wird man also hinter verschlossenen Türen gezwungen sein, einen Kompromisskandidaten zu finden. Sicher ist: Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene oder die Segnung homosexueller Paare wird Bestand haben.
Es wird ein schwieriges Konklave?
POLITI: Ja, denn die Kirche ist zerrissen aufgrund des Bürgerkriegs zwischen Ultrakonservativen und Papst Franziskus. Und sie ist zerrissen, weil sich nationale Identitäten herausgeformt haben. Man orientiert sich mehr an der nationalen Situation als an Rom. Ein ganzer Kontinent, also die Bischofskonferenzen Afrikas lehnten zum Beispiel die Segnung homosexueller Paare ab. Und der Papst akzeptierte das. Das heißt: Ein Papst ist nicht mehr allmächtig und kann alles durchsetzen. Die Römische Kurie, der vatikanische Verwaltungsapparat, ist aber auch nicht mehr so mächtig wie einst.
Woran machen Sie das fest?
POLITI: Die Kurie wollte den Synodalen Weg, den innerkirchlichen Reformprozess in Deutschland, stoppen – die deutschen Bischöfe machten einfach weiter.
Der nächste Papst ...
POLITI: ... muss daher jemand sein, der die zerrissenen Teile zusammennähen kann. Er muss es schaffen, dass alle bestimmte Reformen mittragen. Und er muss eine einheitliche juristische Struktur der Kirche aufbauen. Franziskus hat mit Impulsen und Mehrdeutigkeiten regiert – nun braucht es Verbindlichkeit. Zuletzt dies: Er muss Charisma haben. Es ist nicht mehr möglich wie in alten Zeiten, dass der Papst hinter den Vatikanmauern lebt und Verordnungen nach außen schickt. Es braucht jemanden, der zu den Menschen sprechen kann, auch zu den Nicht-Gläubigen, auch zu den Vertretern anderer Religionen. Es wird wirklich ein schwieriges Konklave werden.
Zur Person
Marco Politi, 1947 in Rom geboren, zählt zu den bekanntesten Vatikanexperten der Welt. Das neue Buch des deutsch-italienischen Journalisten – „Der Unvollendete. Franziskus' Erbe und der Kampf um seine Nachfolge“ – ist Anfang März erschienen (Verlag Herder, 240 Seiten, 22 Euro).
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