Der freundliche Verkäufer in der Bäckerei an der Connecticut Avenue dreht das iPad mit schwungvoller Routine Richtung Kunde. Erwartungsvoll lächelt er ihn an. „Wann immer Sie so weit sind.“ Auf dem Bezahlbildschirm tauchen auf blauem Grund drei Streichholzschachtel-große Felder auf. Sie geben die Wahl zwischen 15, 20 und 30 Prozent. Fast mit der Lupe suchen, muss man die Option „No Tip“ am unteren Rand des Schirms.
Der Nächste in der Schlange kann ohne Mühe sehen, wie großzügig das Trinkgeld ausfällt. Wie auch der Verkäufer nicht lange raten muss. Überforderte Kunden vergessen nach der digitalen Unterschrift regelmäßig, den Schirm zu schließen, bevor er das iPad zurückdreht. Der sanfte Druck – in der Soziologie auch „Nudging“ genannt – funktioniert. Am Ende des Monats haben die Beschäftigten der Bäckerei ein paar hundert Dollar mehr in der Tasche.
Das Trinkgeld trägt bei Starbucks inzwischen zum Einkommen bei
Deswegen haben die Beschäftigten von Starbucks Druck auf den Konzern gemacht, „the turn“, wie die Routine des drehbaren Bezahlbildschirms auch genannt wird, einzuführen. Während die Trinkgeld-Gläser in der Vergangenheit selten mit mehr als ein paar Cent Wechselgeld gefüllt waren, tragen die „Tips“ jetzt spürbar zum Einkommen bei. Laut einer Statistik des Starbucks-Konzerns zahlen die Hälfte der Kunden heute ein Trinkgeld von mindestens 15 Prozent.
Gleichzeitig wächst der Widerstand gegen den Versuch von Dienstleistern, immer und überall die Hand aufzuhalten. Heute sind es nicht bloß Restaurants, in denen Trinkgelder schon immer normal waren. Hinzugekommen sind alle möglichen Geschäfte, in denen Tips keine Tradition haben: von Autowaschanlagen über den Nachbarschaftskiosk bis zum Selbstbedien-Checkout am Flughafen.
Zwei von drei Amerikanern sehen die "Tips" außer Kontrolle geraten
Laut einer Studie von „Bankrate.Com“ haben zwei von drei Amerikanern eine negative Einstellung zu der aus ihrer Sicht außer Kontrolle geratenen Trinkgeld-Unkultur. Die Bereitschaft während der Corona-Pandemie, Menschen zu danken, die zur Erbringung von Dienstleistungen große persönliche Risiken eingegangen sind, wich neuerdings dem Gefühl, abkassiert zu werden.
Was die Amerikaner dabei am meisten störe, so der Analyst Ted Rossman bei „Bankrate.Com“, sei der Eindruck, bevormundet zu werden. „Sie müssen sich wirklich anstrengen, wenn Sie kein Trinkgeld geben wollen“, meint Rossman zu dem Trick mit dem Drehen des Bezahlbildschirms. „Das mögen die Leute nicht.“
Das Trinkgeld steht schon als Vorschlag auf dem Kreditkarten-Beleg
Zumal sich längst herumgesprochen hat, dass Geschäfte damit versuchen, auf dem leer gefegten Arbeitsmarkt, Personal zu gewinnen. Diese Strategie beobachtet auch der Experte Sean Jung von der Boston University. „Die Gehälter in der Service-Industrie reichen nicht aus“, weiß Jung. „Deshalb versucht jeder auf diesem merkwürdigen Weg, den Lohn zu erhöhen, ohne selbst höhere Kosten zu haben.“
In den traditionell an Trinkgelder gewöhnten Gastronomiebetrieben macht sich „Tipflation“ durch einen Anstieg der Obergrenzen bemerkbar. Während in den 1950er-Jahren die Amerikaner noch zehn Prozent auf ihre Restaurant-Rechnung aufschlugen, stieg der Betrag auf 15 Prozent in den 1980er-Jahren und etablierte sich vor Corona bei 20 Prozent. In Metropolen wie Washington, New York oder Los Angeles ist das heute die in Restaurants erwartete Untergrenze. 25 und 30 Prozent an Tip stehen selbstverständlich als vorgeschlagene Option auf dem Kreditkarten-Beleg.
Manche Betriebe "erfinden" weitere Gebühren obendrauf
Was Kunden und Personal gleichermaßen verärgert, sind die oft nicht transparenten Gebühren, die Besitzer neuerdings aufschlagen. In Los Angeles verklagten Kellner eines italienischen Restaurants die Eigentümer, sie um ihre Trinkgelder zu prellen, indem sie eine „Service“-Gebühr von 18 Prozent verlangten. Geld, das nicht dem Personal, sondern der Profitabilität des Geschäfts zugutekam. Mit dem Effekt, dass Kunden dachten, damit sei das Trinkgeld bereits abgedeckt. Die Kläger bekamen Recht. Seitdem steht auf dem Beleg, die Gebühr sei „kein Tip“.
Pfiffige Gastronomen bezeichnen die Aufschläge kreativ als „Gesundheits“- oder „Wohlfühl“-Gebühr, die helfe, die Krankenversicherung oder angemessene Löhne für die Mitarbeiter zu bezahlen. Behauptungen, die sich nicht belegen lassen.
„Da bin ich nicht mehr zu bereit“, beschwert sich Andrew Rathburn, dem genau das kürzlich widerfuhr, als er bei „seinem“ Italiener in Georgetown die Rechnung präsentiert bekam. Statt 56 Dollar laut Menü wollte das Restaurant 82 Dollar für sein Abendessen sehen. Ebenso stört den Bundesbeamten auch der „Dreh“ in Geschäften, in denen Trinkgelder früher unbekannt waren. Er wundere sich, fügt Andrew ironisch hinzu, „wann ich auch meinem Anwalt und Arzt einen Tip geben muss.“