Startseite
Icon Pfeil nach unten
Panorama
Icon Pfeil nach unten

Untersuchungsausschuss: Flutkatastrophe im Ahrtal: Die Nacht, die nicht vergeht

Untersuchungsausschuss

Flutkatastrophe im Ahrtal: Die Nacht, die nicht vergeht

    • |
    Dieses Standbild aus dem Video eines Polizeihubschraubers zeigt von Wasser eingeschlossene Häuser in der Flutnacht. Gleich mehrere solcher Videos waren 14 Monate verschwunden.
    Dieses Standbild aus dem Video eines Polizeihubschraubers zeigt von Wasser eingeschlossene Häuser in der Flutnacht. Gleich mehrere solcher Videos waren 14 Monate verschwunden. Foto: dpa/Polizei Rheinland-Pfalz

    Wer das Unfassbare zu fassen sucht, kann sich an Zahlen halten. An diese: 14.7.2021. 15.7.2021. Oder diese: 150. Oder diese: 180. In jenen Julitagen vor knapp zwei Jahren waren mancherorts in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bis zu 150 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen. Insgesamt kamen mindestens 180 Menschen bei der Jahrhundertflut im Westen Deutschlands ums Leben. Es gibt weitere Zahlen. Etwa die zum parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der sich mit der politischen Verantwortung für die Folgen der größten Naturkatastrophe in Rheinland-Pfalz, der Flutkatastrophe im Ahrtal, befasste. Kürzlich beendete er seine Beweisaufnahme. 

    Ahrtal-Untersuchungsausschuss: 227 Zeugen wurden vernommen

    Er tagte in 42 öffentlichen Sitzungen rund 285 Stunden lang. Es wurden 227 Zeuginnen und Zeugen vernommen, 22 Sachverständige gehört, unter ihnen die Meteorologen Jörg Kachelmann, Sven Plöger und Karsten Schwanke. Es entstanden rund 6700 Seiten Protokoll. Dem Gremium mit seinen elf Abgeordneten und elf ständigen Ersatzmitgliedern aller sechs Landtagsfraktionen lagen elektronische Akten in Form von 1.030.350 Dateien vor.

    SPD-Politiker Martin Haller war Vorsitzender des Untersuchungsausschusses "Flutkatastrophe" des rheinland-pfälzischen Landtags.
    SPD-Politiker Martin Haller war Vorsitzender des Untersuchungsausschusses "Flutkatastrophe" des rheinland-pfälzischen Landtags. Foto: Boris Roessler, dpa

    Das Unfassbare fassbar machen? Mit Zahlen wie diesen wird das wohl kaum gelingen. Denn hinter allen Zahlen stehen Erinnerungen, die weder die Hinterbliebenen der mindestens 134 Toten an der Ahr, die Flutgeschädigten noch der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Martin Haller, vergessen können. Der 39-jährige SPD-Politiker, der in einem evangelischen Pfarrerhaushalt aufwuchs und Pfarrer werden wollte, sagt, es habe Zeugenaussagen gegeben, „die einem einfach in den Knochen stecken bleiben“. Manchmal habe er nach Sitzungen geweint.

    Landrat soll Katastrophenfall viel zu spät ausgerufen haben

    Haller sagt einige solcher Sätze, als er vor wenigen Tagen eine erste Bilanz zieht. Eine Zwischenbilanz, es geht ja weiter: mit der Auswertung der Beweisaufnahme, der Beweiswürdigung, einem Abschlussbericht, der bis Jahresende vorliegen könnte. Auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Landrat des Kreises Ahrweiler und einen ehrenamtlichen Mitarbeiter des Krisenstabs des Kreises wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung durch Unterlassen dauern an. Der Landrat soll viel zu spät den Katastrophenfall ausgerufen haben. Die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Tod von zwölf Bewohnern des Lebenshilfehauses in Sinzig sind ebenfalls Gegenstand des Verfahrens.

    Erst recht nicht abgeschlossen ist das, was nicht auf den ersten Blick zu sehen ist: Ängste, psychische Probleme, ein Vertrauensverlust in die Politik.

    Man habe den Menschen körperlich angemerkt, was sie durchmachten, sagt der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses. „Das vergisst man nicht.“

    Haller spricht davon, wie wichtig es für ihn gewesen sei, die Dinge mit Demut anzugehen. Er erinnert sich an Schilderungen einer Hubschrauber-Besatzung, die in der Flutnacht über das Ahrtal flog. An Schilderungen von Feuerwehrleuten, die im Einsatz waren. Man habe den Menschen körperlich angemerkt, was sie durchmachten. „Das vergisst man nicht.“ 

    Der Untersuchungsausschuss „Flutkatastrophe“ setzte sich mit Pegelprognosen, Hochwassergefahren- und Hochwasserrisikokarten auseinander. Fragte nach rechtlichen und politischen Verantwortlichkeiten, untersuchte das Handeln von Landesregierung und öffentlichen Stellen. Beauftragte ein Gutachten zum Krisenmanagement der zuständigen zentralen Verwaltungsbehörde, das dieser Ineffizienz und strukturelle Probleme attestierte. Befragte zweimal SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die beteuerte, keine Kenntnis von der dramatischen Situation in der Flutnacht gehabt zu haben und auch keinerlei Kenntnis, dass örtliche Behörden zum Teil nicht funktionierten.

    Innenminister Lewentz gerät Anfang Oktober 2022 in Bedrängnis wegen plötzlich aufgetauchter, 14 Monate lang verschwundener Videos eines Polizeihubschraubers

    Wer steht gerade für einen katastrophalen Katastrophenschutz, für menschliches Versagen? Dafür, dass Warnungen Betroffene zu spät oder nicht erreichten? Dass sich viele in den Flutgebieten alleingelassen fühlten, und es zeitweise waren?

    Der Ausschuss offenbarte eine Vielzahl verstörender Vorgänge und Details. Er war der umfangreichste und schwierigste in der Geschichte von Rheinland-Pfalz. Er spielte eine große Rolle bei zwei Minister-Rücktritten. Der von Roger Lewentz (SPD) wurde begleitet von Schlagzeilen wie „Minister und Polizei ahnungslos“. Der von Anne Spiegel (Grüne) löste überdies eine bundesweite Debatte über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus.

    Innenminister Lewentz gerät Anfang Oktober 2022 in Bedrängnis wegen plötzlich aufgetauchter, 14 Monate lang verschwundener Videos eines Polizeihubschraubers des Landes Rheinland-Pfalz aus der Flutnacht. Auf ihnen ist das Ausmaß der Katastrophe zu erkennen. In mehreren Orten steht das Wasser bis zu den Dachfirsten, Menschen versuchen in höchster Not, mit Taschenlampen den rund 800 Meter über ihnen kreisenden Hubschrauber auf sich aufmerksam zu machen. Lewentz betonte, dass am Abend und in der Flutnacht kein „belastbares Lagebild“ vorgelegen habe. Auf einer Pressekonferenz in Mainz wiederholt er, die Videos zum ersten Mal am 23. September 2022 – dem Tag seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss – gesehen zu haben. Dass es die Aufnahmen gebe, habe er „wenige Tage“ davor erfahren. Die Videos, wurde bekannt, liegen seit dem 9. September im Ministerium vor.

    Polizeipräsidenten sprechen von "Missgeschick" und "Versäumnis"

    Warum nicht weit vorher? Warum wurden sie dem Ausschuss nicht längst vorgelegt? Sollte etwas vertuscht werden? Zwei Polizeipräsidenten sprechen von Fehlern, „Missgeschick“ und „Versäumnis“.

    Die Jahrhundertflut hat den Ort Schuld im Kreis Ahrweiler schwer getroffen. So sah er am 15. Juli 2021 aus.
    Die Jahrhundertflut hat den Ort Schuld im Kreis Ahrweiler schwer getroffen. So sah er am 15. Juli 2021 aus. Foto: Thomas Frey, dpa

    Sicher, es gehe jedem „sehr nahe“, wenn man die Videos betrachte, sagt Lewentz dann. Nur, auf ihnen seien keine eingestürzten Häuser, man sehe keine „Flut- oder Tsunamiwelle“. Er sagt: „Legen Sie mir das bitte nicht als Kälte aus.“ In der Flutnacht habe er lediglich das beurteilen können, was ihm an Informationen vorgelegen habe. Und das seien Informationen zu sechs eingestürzten Häusern im Ort Schuld oder zur Lage in Dorsel gewesen.

    Roger Lewentz wird heftig kritisiert – es folgt sein Rücktritt

    Oppositionspolitiker und Katastrophenschutzexperten üben heftige Kritik: Aus den dramatischen Funksprüchen aus Polizeihubschraubern seien keine Konsequenzen gezogen worden. „Sie belegen, dass der ganze Apparat nicht funktioniert hat“, sagt einer. Ein anderer: Im Lagezentrum des Innenministeriums sei „kein aktives Krisenmanagement“ betrieben worden. „Bilder von blinkenden Autos in der reißenden Ahr gab es ja ab dem späten Nachmittag überall in den sozialen Netzwerken.“ Am 12. Oktober kündigt Roger Lewentz seinen Rücktritt an.

    Kurz darauf berichtet ein Hubschrauberpilot als Zeuge im Ausschuss. Die Sitzung muss unterbrochen werden. Die Erinnerungen, die Eindrücke aus der Flutnacht – sie kommen in ihm hoch. Schließlich erzählt er, dass der Hubschrauber irgendwann abgezogen worden sei. Man habe den Menschen, die in Not waren und dringend Hilfe benötigten, „keine Hoffnung machen wollen“. Der Hubschrauber habe nicht über die nötige Rettungsausrüstung verfügt. Er war im Auftrag des Polizeipräsidiums Koblenz sowie des polizeilichen Lagezentrums des rheinland-pfälzischen Innenministeriums unterwegs. Eine Liveübertragung von Bildern aus dem Hubschrauber ins Präsidium funktioniere schon ein, zwei Jahre nicht, erklärt ein Hauptkommissar.

    Wieder etwas Klarheit, die der Ausschuss zutage fördert. Wieder Menschen, die die Flutnacht nicht loslässt.

    Auch Grünenministerin Anne Spiegel muss zurücktreten – das Ende ihrer Karriere markiert ein denkwürdiger Auftritt

    Anne Spiegel, 42, gehört zu ihnen. Sie war bis Anfang Dezember 2021 Landesministerin, danach wurde sie Bundesfamilienministerin. Medienberichten zufolge hatte der Staatssekretär der damaligen rheinland-pfälzischen Umweltministerin am 14. Juli 2021 um 22.24 Uhr und am 15. Juli um 7.52 Uhr vergeblich bei ihr angerufen. In einer Pressemitteilung ihres Ministeriums vom späten Nachmittag des 14. Juli – der Pegelstand in Altenahr war da als weit jenseits des „Jahrhunderthochwassers“ von 2016 prognostiziert – wurde sie mit den Worten zitiert: „Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht.“ Nach einem Bericht der Rhein-Zeitung, die sich auf SMS-Protokolle berief, hatte Spiegel zu der Mitteilung angemerkt: „Konnte nur kurz draufschauen, bitte noch gendern CampingplatzbetreiberInnen, ansonsten Freigabe.“

    Grünenministerin Anne Spiegel musste zurücktreten. Sie war zu einer „Symbolfigur“ geworden „für Versäumnisse und Fehlleistungen von Behörden und Politik vor und während der tödlichen Flutwelle im Ahrtal“.
    Grünenministerin Anne Spiegel musste zurücktreten. Sie war zu einer „Symbolfigur“ geworden „für Versäumnisse und Fehlleistungen von Behörden und Politik vor und während der tödlichen Flutwelle im Ahrtal“. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa (Archivbild)

    Es sollte ein denkwürdiger Auftritt folgen, angekündigt an einem Sonntagabend im vergangenen April. Spiegel tritt in Berlin nach 21 Uhr vor die Kameras, Phoenix und Bild übertragen live. Sichtlich angefasst bittet sie um Entschuldigung für ihren vierwöchigen Familienurlaub in Frankreich nur zehn Tage nach der Flut. Sie ringt nach Worten, spricht vom Schlaganfall ihres Mannes im Jahr 2019, sagt, dass die ganze Familie den Urlaub gebraucht habe. Auch die Übernahme des Umweltressorts in Rheinland-Pfalz im Januar 2021 sei zu viel gewesen. Sie sagt, offenkundig zu Mitarbeitenden und zu sich selbst: „Jetzt überlege ich gerade noch, ob ich irgendwas ... jetzt muss ich’s noch irgendwie abbinden.“ Das Ende einer steilen politischen Karriere. Spiegel zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück.

    Wie es nun weitergeht? Die Aufklärung müsse vorangetrieben werden, sagt Martin Haller

    Zuvor hatte sie vor dem Untersuchungsausschuss und vor Journalisten betont, dass „vom ersten Moment an“ die Situation der betroffenen Menschen für sie im Vordergrund gestanden habe. Glaubhaft wirkte das nicht mehr. Der Spiegel schrieb, sie sei zu einer „Symbolfigur“ geworden „für Versäumnisse und Fehlleistungen von Behörden und Politik vor und während der tödlichen Flutwelle im Ahrtal“.

    Und nun, im Mai 2023? Martin Haller sagt, die Zeit im Untersuchungsausschuss habe ihn verändert, „dauerhaft“. Nun gehe es darum, die Aufklärung voranzutreiben.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden