Mit Tränen in den Augen liegen sich vor dem Gerichtsgebäude in der norditalienischen Stadt Genua Menschen in den Armen. Eine Frau trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Foto eines jungen Mannes darauf.
Fast vier Jahre mussten Freunde und Familien auf diesen Tag warten, bis der Prozess um den tödlichen Einsturz der Autobahnbrücke "Ponte Morandi" beginnen konnte.
Hoffnung auf Gerechtigkeit
"Es ist die letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit, die wir haben", sagte eine Angehörige, die bei dem Unglück am 14. August 2018 mit 43 Toten ihren Partner verlor, im italienischen Fernsehen. Die Bilder des eingebrochenen Brückenabschnitts mit einem Lastwagen, der kurz vor der Kante zum Stehen gekommen war, gingen damals um die Welt.
Die Auftaktverhandlung am Vormittag dauerte nicht lange. Weitere Parteien hätten ihre Zulassung als Zivilkläger in dem Verfahren beantragt, und das Gericht habe die zukünftigen Verhandlungen terminiert, berichtete Egle Possetti vom Verband der Angehörigen der Opfer im Anschluss. Auch ihre Vereinigung reichte erneut einen Antrag als Zivilpartei ein. Am 12. September geht der Prozess weiter.
170 Zeugen sollen gehört werden
Drei Säle standen wegen des hohen Andrangs bereit, einer davon ein Zelt. 59 Menschen müssen sich für das Unglück verantworten. Die Anklage will mehr als 170 Zeugen hören. Außerdem sind weit über 300 Zivilkläger zugelassen, und weitere könnten noch folgen.
"Nach fast vier Jahren Warten haben wir große Erwartungen", sagte Possetti. "Wir haben die Erwartung, dass dieser Prozess Gerechtigkeit bringt, dass er Klarheit über die Gründe und Verantwortlichkeit schafft, die zur Tötung unserer Angehörigen geführt haben, denn ansonsten wird der Tod unserer Lieben unnütz sein, und sie werden nicht in Frieden ruhen können."
Beobachter gehen davon aus, dass erste Urteile womöglich erst in zwei Jahren feststehen. Angeklagt sind unter anderem Fachleute und ehemalige Führungskräfte der Firma, die für die Wartungsarbeiten zuständig war, sowie Ex-Mitarbeiter des Infrastruktur-Ministeriums und Behörden-Funktionäre. Ihnen werden etwa mehrfache fahrlässige Tötung, Amtsmissbrauch und Unterlassung vorgeworfen. Zwei Unternehmen - die Wartungsfirma und der Autobahnbetreiber - konnten vor dem Prozess eine Zahlung von rund 30 Millionen Euro aushandeln und befinden sich deshalb nicht unter Anklage.
Hunderte Menschen wurden obdachlos
"Ich glaube, alle wünschen sich, Gewissheit über die Wahrheit haben zu können", sagte der Anwalt Giovanni Accinni, der einen beschuldigten Ex-Funktionär des Autobahnbetreibers vertritt. "Heute fangen wir an, über Tatsachen zu sprechen, außerhalb eines medienwirksamen, verfälschten und verdrehten Prozesses, der seit Beginn den Grund für den Einsturz nicht beachtete", erklärte sein Anwaltskollege Guido Carlo Alleva. Er verwies auf den Bericht der Gutachter, wonach die Brücke Baumängel gehabt haben soll.
Nach dem Einsturz 2018 wurden Hunderte Menschen, die unter dem Viadukt wohnten, obdachlos. Als Grund für den Zusammenbruch werden Schäden vermutet, die wegen ausgebliebener oder mangelhafter Wartungsarbeiten nicht entdeckt wurden. An der Stelle wurde später eine neue Brücke über den Bach Polcevera gebaut, die im August 2020 unter dem Namen San-Giorgio-Brücke eingeweiht wurde.
(Von Johannes Neudecker, dpa)