Da steht er einsam Schmiere, der Junge mit seiner Prinz-Eisenherz-Frisur, ein unsicheres Lächeln trägt er im Gesicht und dennoch hat er die Hosen gestrichen voll. Denn Davids Cousins und seine Schwester rauben gerade einen Stuttgarter Juwelierladen aus. Im letzten Moment hat noch eine Kundin das Geschäft betreten, jetzt hört er Schreie aus dem Innern. Und von der anderen Straßenseite aus beobachtet ein junger Drogendealer die Szenerie. Was tun? Soll David reingehen und seine kriminellen Verwandten warnen? Soll er die Türe zuhalten, damit niemand fliehen kann? Aber dann sitzt die Kundin in der Falle.
Der 13-Jährige ist hin- und hergerissen - und das wird sich im neuen Stuttgarter "Tatort" (Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste) auch bis kurz vor Schluss nicht ändern. Fast bis zur letzten Szene. Denn in dem Fall, dessen Titel "Zerrissen" bereits die wackeligen Gemütslagen aller Protagonisten skizziert, entwickeln sich die einzelnen Figuren erst. Sie geraten in Loyalitätskonflikte, sie hadern mit dem Ermittlungsansatz oder mit ihrer Rolle als freiheitsliebende Sozialarbeiterin, die auf das Vertrauen ihrer Schützlinge baut und sie dennoch erziehen muss. Am Ende müssen sie alle ihre Entscheidung treffen.
Auf dem Weg dorthin begleitet sie der "Tatort", dem es in diesem neuen komplexen und ambitionierten Stuttgarter Fall weit weniger auf die klassische "Wer war's und warum?"-Frage ankommt. "Hier geht es uns weniger um einen Whodunit als primär um die Frage, ob und wie sich ein Minderjähriger von den Kräften befreien kann, die ihn zum Schuldigen machen, die ihn "knacken", die ihn auf ihre Seite ziehen wollen", sagt Co-Autor Sönke Lars Niewöhner.
Im Mittelpunkt steht natürlich David. Ein Kind aus dem Kriminellenmilieu, der Vater im Knast, der Bruder beim illegalen Autorennen ums Leben gekommen, die Cousins schlicht Schwerverbrecher und im Nu des Mordes verdächtigt, denn die Kundin aus dem Juweliergeschäft kommt beim Raub ums Leben. Alibis scheinen sie alle zu haben, aber wie bringen die Brüder jetzt noch den Drogendealer zum Schweigen, der sie vor dem Laden ohne die schützende Maske gesehen haben könnte?
David, als zarter und unsicherer Schützling gespielt vom jugendlichen Louis Guillaume, sitzt nun zwischen allen Stühlen. Er ist das schwächste, weil emotionalste Glied in der durchtriebenen Familienbande, von allen wird er gefordert. "Der Junge ist die Schwachstelle, den müssen wir knacken", sagt Thorsten Lannert (Richy Müller) zum Kommissar-Kollegen Sebastian Bootz (Felix Klare). "Du bist unser Joker", drohen ihm seine Cousins mit Blick auf seine Strafunmündigkeit. "Halt dich an Deine Familie", rät ihm der einsitzende Vater. Und selbst die Sozialarbeiterin Annarosa, die der Junge vergöttert und nicht enttäuschen will, hat Erwartungen und will David im Jugendheim seine Perspektiven aufzeigen, solange er sich nicht einnehmen lässt von der Familie oder vom "System", wie sie es nennt.
So wird der Junge, zerrieben zwischen Loyalität, Bewunderung und Angst, zwischen seiner Familie und dem Druck der Polizei, zur Schlüsselfigur in einer Gewaltspirale. Regisseur Martin Eigler und seinem Co-Autor Niewöhner, bereits ein eingespieltes Duo durch die Stuttgarter "Tatort"-Episoden "Freigang" (2014) und "Der Mann, der lügt" (2018), setzen die interessante Idee um zu einer ungewöhnlichen, rein künstlerisch eher unauffälligen, aber doch sehenswerten "Tatort"-Folge. Einer Folge auch, auf deren Geschichte er durch einen Zeitungsartikel gekommen ist, wie Neuwöhner erzählt.
In einer Notiz sei die Rede gewesen von einem Heranwachsenden, der aus seiner schwer kriminellen Familie genommen wird und in ein Heim kommt, wo er schnell wieder ins Fadenkreuz eben dieser Familie gerät. "Wie gelingt es einem Kind, mit den Kräften fertig zu werden, die an ihm ziehen und die es manipulieren?", fragt Niewöhner. "Dieser Kampf um die Seele eines Heranwachsenden hat uns interessiert." Die traditionellen Protagonisten Bootz und Lannert alias Müller und Klare treten da ausnahmsweise in die zweite Reihe zurück.
(Von Martin Oversohl, dpa)