Unrasierte Männer in Mützen drängen sich morgens in der Gasse vor einer kleinen Moschee in Istanbul. Helfer schleppen Kessel voller Bohnensuppe und Reis heran und wuchten sie auf Plastiktische; andere balancieren Tabletts voller Limonadenbecher. Gegen halb zehn Uhr eröffnet Imam Osman das Buffet: „Kommt, Brüder, esst euch satt“, ruft der Imam, und die Warteschlange setzt sich schlurfend in Bewegung. Ein Segen sei diese Armenspeisung, sagt ein junger Mann namens Ilyas, der den Reis austeilt – ein Segen nicht nur für die Bedürftigen, sondern eine spirituelle Bereicherung auch für die Helfer und die Spender.
Mildtätigkeit ist eine der fünf Säulen des Islam und besonders wichtig im Fastenmonat Ramadan, der in diesem Jahr am 11. März beginnt. Aber Mildtätigkeit per Mausklick oder Überweisung auf ein Spendenkonto, wie sich das in der Türkei eingebürgert hat – das gehe gar nicht, findet Imam Osman. Wer für die Obdachlosen spenden will, die er in seiner Moschee betreut, muss selbst antreten und die Suppenkelle schwingen. „Wahre Barmherzigkeit kann es nur von Angesicht zu Angesicht geben“, sagt der Imam. Kein größeres Glück gebe es, als einem bedürftigen Menschen zu helfen, und daran will er die Reichen teilhaben lassen.
Obdachlose dürfen sich in der Moschee satt essen
Ein Päckchen mit frischer Unterwäsche und Socken bekommt jeder Obdachlose in der Schlange, dazu die warme Mahlzeit. Gegessen wird im Stehen an einer Mauer oder an einem Plastiktisch auf der Gasse, denn die Jahrhunderte alte Selime-Hatun-Moschee ist winzig und hat keinen Hof. Rund 150 Obdachlose speist Imam Osman Gökrem hier jeden Samstag; um vier Uhr morgens beginnt er mit dem Kochen auf drei Gasbrennern in einem Verschlag neben der Moschee. Die Zutaten bezahlen wöchentlich wechselnde Spender, die das Essen dann selbst austeilen.
„Der Prophet sagt, wir sollen den Waisen den Kopf streicheln“, sagt Imam Osman. „Damit meint er nicht nur Geld geben - er meint, wir sollen ihnen die Eltern ersetzen.“ In seiner Moschee dürfen Obdachlose sich nicht nur einmal in der Woche satt essen, sie dürfen dort auch baden. Seife, Duschgel und Handtücher hält der Imam in einem kleinen Bad unter der Moschee bereit. Der Tagelöhner Hakan ist einer der Obdachlosen, die das zu schätzen wissen. Seit vier Jahren lebe er auf der Straße, erzählt der 30-Jährige in der Warteschlange vor der Essensausgabe. „Ich nehme an Jobs, was ich kriegen kann, aber bei der Wirtschaftslage habe ich keine Chance auf etwas Festes.“ Das Angebot von Imam Osman ist ein Fixpunkt in seinem Leben. „Ich komme jeden Samstag, esse und dusche hier und hole mir frische Unterwäsche.“
Weniger Frauen leben auf der Straße
Seit zehn Jahren betreut Imam Osman die Obdachlosen, von denen es hier in der Innenstadt von Istanbul mehr gibt als anderswo im Land. Begonnen habe eigentlich seine Frau, erzählt der 57-jährige, kurz nachdem er vom Religionsamt an diese Moschee nahe dem zentralen Taksim-Platz versetzt worden war. „Meine Frau sah aus dem Fenster und sagte, die Leute haben Hunger, kannst du sie nicht füttern“, erinnert er sich. „Ich bin zum Markt gerannt und habe Linsen gekauft, sie hat Suppe gekocht, und wir haben sie verteilt.“ Acht Jahre lang kochte das Ehepaar in der Küche seiner Dienstwohnung unter der Moschee für immer mehr Obdachlose: „Die ganze Wohnung hat 45 Quadratmeter, da sah es mit all den Reis- und Bohnensäcken aus wie im Lagerraum.“ Schließlich wurde es seiner Frau zu viel. Der Imam funktionierte die Altkleiderkammer der Moschee um zur Feldküche und lernte selbst kochen. „Reis, Kichererbsen, Bohnen, Gulasch, Linsen – das kann ich jetzt alles“, erzählt er.
Viel hat sich in diesem Jahrzehnt auf der Straße verändert, hat der Imam beobachtet. „Früher hatten wir hier noch viele obdachlose Kinder und Jugendliche und auch Frauen, viele drogensüchtig“, erzählt er. Heute tauche keine Frau mehr zur Armenspeisung auf und nur ganz selten einmal ein Jugendlicher; der Altersdurchschnitt seiner Klientel sei von 35 auf 45 bis 50 gestiegen. Einer verbesserten Sozialpolitik der türkischen Regierung sei das zu verdanken, meint er, die mit Kinderheimen und Frauenasylen die meisten von der Straße geholt habe – „elhamdulillah, Gott sei Dank“, fügt er hinzu: „Eine muslimische Gesellschaft, die Frauen und Kinder auf der Straße liegen lässt, während sie fünfmal am Tag beten geht – das ist Sünde.“
Der Imam stellt die Behörden auf die Probe
Mit den Behörden ist der Imam nicht immer einverstanden. Die Vorschrift des Religionsamtes, dass niemand in Moscheen schlafen darf, die wollte ihm nicht einleuchten. Ein paar ausgewählte Obdachlose lässt Imam Osman nämlich in der Selime-Hatun-Moschee schlafen, und zwar diejenigen, die arbeiten wollen, um von der Straße wegzukommen. „Nicht die Faulen“, sagt er mit einem Zwinkern. Wer aber feste Arbeit findet, der darf in der Moschee schlafen, bis er genug Lohn gespart hat, um ein Zimmer zu mieten. „Denn wenn man auf der Straße schläft, kann man am Arbeitsplatz nicht funktionieren und wird rausgeworfen“, erklärt er.
Imam Osman reichte Selbstanzeige beim Mufti von Istanbul ein, seiner vorgesetzten Behörde beim Religionsamt: Er lasse Menschen in der Moschee schlafen und wolle wissen, warum das verboten sei. Das Religionsamt bestellte ihn ein, konnte aber keine gesetzliche Grundlage für das Verbot vorlegen; seither hat er Ruhe. Die Auseinandersetzung bestätigte sein Lebensmotto: „Sei gewiss, dass du Gutes tust, und überlasse alles andere Gott.“ So steht er auch Beschimpfungen und Bedrohungen durch, die er immer wieder einmal aus der Nachbarschaft erfährt. Seine Moschee liegt hinter einem Luxushotel in einem wohlhabenden Viertel, dessen Einwohner sich teilweise vor den Obdachlosen fürchten. „Die kommen aber nicht selbst zu mir; sie schicken ihren Chauffeur oder Türsteher, um mir zu drohen“, erzählt der Imam. Er übe sich dann in der islamischen Tugend der Geduld – „und irgendwann gibt dann der Chauffeur die Altkleider seines Herrn für die Obdachlosen bei mir ab“.