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TГјrkei: Erdbeben in der TГјrkei: Vergessen im Katastrophengebiet

TГјrkei

Erdbeben in der TГјrkei: Vergessen im Katastrophengebiet

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    Die TrГјmmer sind noch da, Giftstoffe verpesten Wasser und Luft: Adiyaman, vom Erdbeben im Februar gezeichnet.
    Die TrГјmmer sind noch da, Giftstoffe verpesten Wasser und Luft: Adiyaman, vom Erdbeben im Februar gezeichnet. Foto: Susanne GГјsten

    Staub und GetГ¶se liegen Гјber Adiyaman. Bagger wГјhlen in GerГ¶llhaufen, Bohrhammer knattern auf BetontrГјmmern. Der Verkehr staut sich hupend zurГјck, wo StraГҹen wegen Abrissarbeiten gesperrt sind. Zehn Monate ist das Erdbeben her, doch in dieser gebeutelten Stadt in Anatolien ist an Wiederaufbau noch nicht zu denken.

    Tausende zerstГ¶rter HГӨuser und Wohnblocks sind abgerissen worden, seit am 6. Februar 2023 die Welt der Menschen hier erschГјttert wurde, doch ebenso viele weitere liegen noch in TrГјmmern oder stehen wie schwankende Kulissen eines Horrorfilms Гјberall in Adiyaman. In der Luft liegt der Asbeststaub von den Abrissarbeiten, in das Grundwasser sickern giftige Schwermetalle aus den Schutthaufen, und nachts machen wilde Hunde die StraГҹen unsicher. Die Гңberlebenden des Bebens kauern in Containerlagern am Stadtrand und fГјrchten sich vor dem Winter. Manchmal beneide sie die Todesopfer des Bebens, sagt eine Frau namens Elif: "Die Toten sind jetzt im Himmel, aber wir вҖ“ wir leben in der HГ¶lle."

    Alles weg: StraГҹen, HГӨuser, Leben, Geld.
    Alles weg: StraГҹen, HГӨuser, Leben, Geld. Foto: Susanne GГјsten

    Die Menschen im Erdbebengebiet in der TГјrkei fГјhlen sich vergessen

    Elif will gehГ¶rt werden. "ErzГӨhl der Welt von uns in Adiyaman!", beschwГ¶rt sie die Reporterin. "Kein Mensch da drauГҹen weiГҹ von uns, wir sind vergessen von der Welt." Die 34-JГӨhrige lebt mit ihrem Mann und ihren drei Schulkindern in einem der fast tausend Container im Lager K8, das am Westrand der Stadt auf der freigerГӨumten FlГӨche eines eingestГјrzten Neubauviertels eingezГӨunt ist вҖ“ eines von Dutzenden solcher Lager rings um die Stadt. Bei Regen tropft Wasser durch das Dach. Wer es sich leisten kann, hat eine Plastikplane Гјber seinen Container gebreitet. Zu fГјnft in einem Raum von 21 Quadratmetern zu leben, das sei nicht leicht, sagt Elif. Die Kinder tun sich mit den Schularbeiten schwer, die Eltern hadern mit der Armut. Der Vater ist Herrenfriseur, "aber wer lГӨsst sich in diesen Zeiten schon rasieren? Wir hatten eine schГ¶ne Wohnung, wir hatten ein gutes Leben, aber Гјber Nacht war alles weg."

    Das war die Nacht vom 5. auf den 6. Februar. Am frГјhen Morgen bebte die Erde von der MittelmeerkГјste bis zum 400 Kilometer weiter Г¶stlich gelegenen Diyarbakir. Stunden nach dem ersten Beben der StГӨrke 7,8 folgte eine zweite ErschГјtterung der StГӨrke 7,7. In Adiyaman, einer Stadt von 300.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, starben rund 8400 Menschen вҖ“ ein FГјnftel der Gesamtopferzahl im tГјrkischen Erdbebengebiet. Mehr als 17.000 Menschen wurden in Adiyaman verletzt, fast 1500 GebГӨude stГјrzten ein; weitere 4100 HГӨuser wurden so schwer beschГӨdigt, dass sie unbewohnbar sind.

    "Unser Leben ist furchtbar, anders kann man es nicht nennen", sagt eine junge Frau namens Sila, die vor dem Lager auf einen Bus ins Stadtzentrum wartet. Sie selbst wГјrde sich schon glГјcklich schГӨtzen, wenn ihr und ihren Eltern endlich ein Container gegeben wГјrde, sagt sie. Obwohl ihr Haus zerstГ¶rt sei, mГјssten sie sich nach zehn Monaten noch immer mit in den Container ihrer Tante quetschen вҖ“ sechs erwachsene Menschen in einem Zimmer. Sila steht seit einer Stunde an der Haltestelle вҖ“ doch als der Bus endlich kommt, ist er so voll, dass kein einziger Passagier mehr hineinpasst. So sei es immer, sagen die Frauen an der Haltestelle verbittert, jetzt mГјssten sie wieder zwei Stunden warten. Ins Zentrum mГјssten sie aber auf jeden Fall, denn die Lebensmittelpreise in den GeschГӨften vor dem Lager kГ¶nne keiner bezahlen. Sila hat die Schule abgebrochen, um bei einem Imbiss zu arbeiten вҖ“ bis zum Beben lernte sie Erzieherin an einer Berufsfachschule, aber seither kГ¶nne sie sich nicht einmal Heft und Kugelschreiber leisten, erzГӨhlt sie. Und warme Kleidung fГјr den Winter erst recht nicht, fГјgt sie hinzu, und zupft am SpaghettitrГӨger des Hemdchens, das sie unter ihrem T-Shirt trГӨgt: "Sieh mal, ich gehe immer noch kurzГӨrmlig."

    In der tГјrkischen Region bebt seit Jahrhunderten die Erde

    Rund 660.000 Menschen im Erdbebengebiet leben zehn Monate nach der Katastrophe in den Wohncontainern; allein in Adiyaman sind es 130.000, und auch das erst seit wenigen Monaten; bis dahin hausten die meisten in Zelten. Die Containersiedlungen sind teils aus privaten Spenden finanziert und werden von der tГјrkischen KatastrophenschutzbehГ¶rde Afad verwaltet. Stadtverwaltungen auГҹerhalb des Erdbebengebiets halfen bei der Verlegung von Wasser-, Strom- und Abwasserleitungen in den Lagern.

    Adiyaman liegt in der NГӨhe der Ostanatolischen Verwerfungslinie, die seit Jahrhunderten die Erde in der Region beben lГӨsst. Eine Studie der UniversitГӨt Adiyaman kam 2013 zu dem Ergebnis, die Wahrscheinlichkeit eines schweren Bebens in der Gegend liege bei 90 Prozent. Trotzdem wurden in der Provinz fГјnf Jahre spГӨter mehr als 10.000 GebГӨude trotz BaumГӨngeln als bewohnbar eingestuft. Die Bauherren mussten lediglich eine GebГјhr zahlen, um illegal hinzugefГјgte Stockwerke absegnen zu lassen. Auch der tГјrkische PrГӨsident Recep Tayyip Erdogan geriet deshalb in schwere Kritik. Seine Wiederwahl hat das nicht gefГӨhrdet. Die Regierung darf sich in ihrem Kurs bestГӨtigt fГјhlen, denn sie hat die Wahlen im Mai trotz der Erdbebenkatastrophe und trotz der MГӨngel bei der Nothilfe gewonnen. Selbst bei den WГӨhlern im UnglГјcksgebiet konnte sie sich behaupten.

    Alle hier richten sich darauf ein, lange in den Containern zu bleiben

    Vor einigen Behausungen in der Containersiedlung K8, in der Elif und Sila mit ihren Familien wohnen, hГӨngt WГӨsche, andere sind mit Vorbauten erweitert worden. Vor dem Zaun um das Lager sind SupermГӨrkte, ein Jugendzentrum und HallenfuГҹballplГӨtze in Fertighallen untergebracht. Alle hier richten sich darauf ein, lange zu bleiben. Dass er und seine Familie eine Wohnung in einem der geplanten neuen HГӨuser im Erdbebengebiet erhalten werden, glaube er nicht, sagt ein Vater von drei Kindern. "Die bekommen sicher nur Leute mit Verbindungen."

    Die Regierung von Erdogan will bis zum ersten Jahrestag des Bebens im Februar mehr als 300.000 neue Wohnungen an Obdachlose im Erdbebengebiet Гјbergeben. Auch am Stadtrand von Adiyaman werden mehr als 16.000 neue Wohnungen hochgezogen. "FГјr ein stГӨrkeres Adiyaman", steht auf Transparenten der Stadtverwaltung am StraГҹenrand.В 

    
Mediziner Ismail Tosun aus der tГјrkischen Stadt Adiyaman.
    Mediziner Ismail Tosun aus der tГјrkischen Stadt Adiyaman. Foto: Susanne GГјsten

    Ismail Tosun ist Chef der Г„rztekammer hier und hat derzeit noch ganz andere Sorgen. Erst die HГӨlfte der unbewohnbaren GebГӨude sei abgerissen worden, sagt Tosun. "Beim Abriss wird Staub aufgewirbelt, und die Abrissstellen werden nicht bewГӨssert. Asbest breitet sich aus", sagt er. Dazu die Giftstoffe im Trinkwasser. Das GerГ¶ll aus den zerstГ¶rten HГӨusern, das hГӨufig mit Schwermetallen belastet ist, werde in der NГӨhe von Wohngebieten ausgekippt, sagt der Arzt. Amtliche Messungen der Luft- und WasserqualitГӨt gibt es nicht, doch Tosun und die Г„rzte in seinem Team sehen die Folgen des Gifts auch so jeden Tag. "Im Moment breiten sich Magen-Darm-Infektionen aus, besonders bei Kindern", sagt Tosun. Das liege vor allem daran, dass viele in Adiyaman das schmutzige Leitungswasser trinken, weil sie sich abgefГјlltes Trinkwasser nicht leisten kГ¶nnen. Die tГјrkischen BehГ¶rden setzen auf einen schnellen Wiederaufbau und ignorieren dabei Gesundheitsgefahren wie den giftigen Asbeststaub. Sie lassen stellenweise Neubauten von sieben Stockwerken errichten.

    Die TГјrken auГҹerhalb des Erdbebengebiets erfahren nicht viel von diesen Problemen. "Wenn man sich die Zeitungen anschaut, dann ist das hier ein Rosengarten", sagt Tosun. "Aber in Wirklichkeit geht nichts voran." Seit dem Beben kГјmmern sich Tosun, die Г„rzte seiner Kammer und Freiwillige aus anderen Landesteilen um die Opfer. Doch die Welle der Hilfsbereitschaft unmittelbar nach dem Beben ist lГӨngst verebbt. Inzwischen hat Tosun es schwer, Helfer von auГҹerhalb zu finden.

    Recep Tayyip Erdogan, PrГӨsident der TГјrkei, geriet nach der Katastrophe in die Kritik.
    Recep Tayyip Erdogan, PrГӨsident der TГјrkei, geriet nach der Katastrophe in die Kritik. Foto: Peter Dejong, dpa

    Dabei stehen die Mediziner erst am Anfang ihrer Arbeit. Die Hilfe fГјr die Erdbebenopfer werde Jahre dauern, schГӨtzt Tosun. Die Г„rztekammer hat einen Verein gegrГјndet, der Spenden sammeln soll, um einen Kindergarten zu bauen. Tosun empfГӨngt seine Patienten und Patientinnen in einer Klinik in einem zerstГ¶rten Wohngebiet. DrauГҹen fressen sich die Bagger durch den Schutt. Auch zehn Monate nach der Katastrophe muss die HauptdurchgangsstraГҹe von Adiyaman, der AtatГјrk-Boulevard, immer wieder gesperrt werden, weil GebГӨude am StraГҹenrand abgerissen werden. Kipplaster mit Abraum und Tieflader mit Baggern oder Wohncontainern schieben sich durch den Stau. Viele Apotheken, CafГ©s, Zeitungsredaktionen und GeschГӨfte sind in Wohncontainern untergebracht.

    Das schГ¶ne Adiyaman, wo sich Menschen abends in gut beleuchteten Parks trafen, existiere nicht mehr, sagt Tosun. "Heute sind die NГӨchte stockdunkel, weil die StraГҹenlampen nicht mehr funktionieren. Die Leute fГјrchten sich davor, auf die StraГҹe zu gehen." Nicht nur wegen der wilden Hunde.

    Rund 50.000 Neubauwohnungen werde die Stadt brauchen. Den optimistischen Voraussagen der Regierung auf schnelle Abhilfe fГјr die Wohnungsnot glaubt der Mediziner nicht. Tosun ist sicher, dass viele Menschen noch lange in den Containern bleiben mГјssen: "FГјnf bis zehn Jahre wird das noch dauern. Vorher wird das nichts."

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