Wer meint, der größte Erziehungs-Meilenstein sei das erste Wort oder der erste Schritt des Nachwuchses, hat vermutlich noch nie ein Kleinkind von der Windel entwöhnt. In Großbritannien sind die Erwartungen besonders hoch: Potty Training, das Töpfchen-Training, gilt dort als Großprojekt. Auf der Insel gibt es deshalb einen regelrechten Markt für die Befreiung von der Windel: Superhelden-Unterhosen, Belohnungssysteme mit Stickern und Töpfchen-Bilderbücher sollen dabei helfen, das Kind an den Toilettengang zu gewöhnen. Denn einige Kitas erwarten, dass die Kinder bis zum dritten Geburtstag trocken sind. Schließlich fängt die Schule in Großbritannien bereits mit vier Jahren an.
Auch wenn das Klotraining Zeit und Geduld benötigt, wie der nationale Gesundheitsdienst NHS betont, opfern britische Familien nicht selten ihren Urlaub, um ihr Kind im Schnelldurchgang auf das große Geschäft vorzubereiten. Teppiche werden eingerollt, Töpfchen strategisch in der Wohnung verteilt, die Toddler, wie Kleinkinder auf der Insel genannt werden, laufen eine Woche lang nackt herum. Irgendwann, so die Hoffnung, ist plötzlich von einem Moment auf den anderen Schluss mit den Windeln. Doch so einfach ist es offenbar nicht. Umfragen unter Lehrkräften in England und Wales zufolge sind 25 Prozent der Kinder bei der Einschulung nicht zuverlässig trocken, Tendenz steigend. Jene Briten, die Kleinkinder in ihrer Obhut haben, fragen deshalb auch öffentlich zunehmend lauter: Warum dauert es immer länger?
Weltweit werden Eltern aufgerufen, ihre Erfahrungen mit dem Klotraining zu teilen
Das University College London (UCL) möchte genau das herausfinden und hat dafür nun sogar eigens ein Forschungsprojekt eingerichtet: das „Big Toilet Project“, das große Toiletten-Projekt. Weltweit werden Eltern aufgerufen, ihre Erfahrungen mit dem Klotraining zu teilen – in der Hoffnung, die effektivsten Methoden zu identifizieren. Sorgeberechtigte, die teilnehmen möchten, können zunächst einen Fragebogen ausfüllen und dann ein Toilettentagebuch führen. Daten sollen belegen, welche Strategien funktionieren.
Der britische Forscher Mark Miodownik, der das Projekt leitet, kennt die Herausforderungen des Potty-Trainings aus eigener Erfahrung: „Ich fand es unglaublich schwierig, meine Kinder aufs Klo zu bringen“, sagt er. Ziel des Projektes sei eine Win-Win-Situation – „für die Kinder, die Eltern, den Geldbeutel und die Umwelt“. Denn neben den finanziellen Herausforderungen ist auch die Umweltbelastung enorm: Allein in der EU landen jährlich 6,7 Millionen Tonnen Windeln im Müll.
In Ländern mit einem niedrigeren Vermögen pro Kopf ist der Nachwuchs offenbar oft früher trocken
Wie schnell Kinder windelfrei werden, ist aber tatsächlich weltweit unterschiedlich. In Ländern mit einem niedrigeren Vermögen pro Kopf ist der Nachwuchs offenbar oft früher trocken, erklärt Verhaltenspsychologin Ayşe Allison vom UCL. In den USA, Australien und Westeuropa hingegen zieht sich das Toilettentraining häufig bis ins Vorschulalter. Die Forscher wollen nun herausbekommen, warum das so ist. Ein möglicher Grund: „Windeln sind heutzutage einfach verdammt gut“, so Sarah Timms von der Wohltätigkeitsorganisation ERIC, die sich auf die Unterstützung von Kindern mit Blasen- und Darmproblemen spezialisiert hat. Solche Mädchen und Jungen spürten nicht, dass sie auf die Toilette müssen, weil es sich nicht nass anfühlt, sagt sie. Früher, so Timms weiter, war der Aufwand, Stoffwindeln zu waschen, ein großer Anreiz, den Nachwuchs möglichst früh aufs Töpfchen zu setzen. Und: Erziehungsstile haben sich verändert. Eltern sind vorsichtiger, es gibt weniger Unterstützung durch Fachkräfte – und viele holen sich Rat über die sozialen Medien, wo Influencer teils fragwürdige Methoden anpreisen.
Ob die Studie das Geheimnis des perfekten Toilettentrainings lüften wird? Britischen Eltern wäre es zu wünschen. Sie könnten den Urlaub in Zukunft möglicherweise wieder am Strand statt zwischen Töpfchen verbringen.
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