Irgendwann konnte es der 15-jährige Nicolas nicht mehr aushalten. Ein Jahr lag hatten ihn Mitschüler ständig gehänselt, beleidigt, schikaniert. Der Jugendliche wechselte daraufhin vom Vorort Poissy in eine Schule in Paris. Das neue Schuljahr war erst wenige Wochen alt, als er sich am 5. September das Leben nahm.
Sein Fall reiht sich ein in eine ganze Serie von ähnlichen Dramen in Frankreich, bei denen Schülerinnen und Schüler von anderen derart gemobbt wurden, dass sie schließlich Suizid begingen – und bei denen die zuständigen Schulleitungen und Aufsichtsbehörden versagten. Liegt das Problem im System?
Seine Eltern führten einen verzweifelten Kampf, um ihn zu beschützen
Nicolas‘ Fall sorgt für besonders große Empörung angesichts des verzweifelten Kampfes, den seine Eltern führten, um ihren Sohn zu beschützen. Medien veröffentlichten mehrere Briefwechsel zwischen ihnen, dem Schulleiter und der verantwortlichen Behörde, der Akademie von Versailles. Deren Leiterin drohte Nicolas‘ Familie sogar mit einer Anzeige wegen Verleumdung, sollte diese nicht eine „konstruktive und respektvolle Haltung“ einnehmen. „Ihre Worte und das Verhalten, das Sie gegenüber dem Personal des Erziehungsministeriums an den Tag legten, deren Professionalität und Korrektheit nicht in Frage zu stellen sind, sind nicht akzeptabel“, heißt es in dem Schreiben.
Der neue Bildungsminister Gabriel Attal, der an der Beerdigung des 15-Jährigen in Poissy teilnahm, nannte den Brief „eine Schande“. Ihm gehe es nicht darum, eine Institution und deren Personal zu schützen, sondern in erster Linie um die Kinder. Er kündigte eine umfassende Untersuchung in allen Schulen an. Denn in Frankreich sind rund eine Million der insgesamt zwölf Millionen Schülerinnen und Schüler Schätzungen zufolge Opfer von Mobbing.
In jeder Einrichtung soll es Ansprechpartner, aber auch „Botschafter“ unter den Jugendlichen selbst geben, außerdem werden Fort- und Weiterbildungen angeboten. Auch müssen alle Fälle genau dokumentiert werden, ebenso wie die getroffenen Lösungsansätze. Und: Künftig sollen nicht mehr die Opfer die Schule wechseln, um dem Problem zu entgehen, sondern die verantwortlichen Kinder und Jugendlichen, im Zweifel auch gegen den Willen der Eltern. Er lasse „null Toleranz gegen Mobbing“ zu, betonte Attal: „Jedes Drama ist eines zu viel, das uns ermahnt, das wir den Anforderungen immer noch nicht genügen.“
Brigitte Macron führte ein langes Gespräch mit Nicolas' Eltern
Die First Lady Brigitte Macron, selbst ehemalige Lehrerin, führte ein langes Gespräch mit Nicolas‘ Eltern und steht in Kontakt mit anderen betroffenen Familien, wie der Mutter der 13-jährigen Lindsay. Das Mädchen hat sich im Mai nach monatelangem Mobbing das Leben genommen. Ihre beste Freundin Maïlys und ihre beiden jüngeren Brüder würden immer noch schikaniert, sagte die Mutter. Sie hat Klage gegen die Schulleitung, die zuständige Aufsichtsbehörde von Lille, die Polizei und Facebook eingereicht.
Frankreich habe beim Kampf gegen Mobbing einen Rückstand von 20 bis 30 Jahren gegenüber den USA oder den skandinavischen Ländern, sagte Laurent Zameczkowsi von der Elternvereinigung PEEP: „Viele denken immer noch, dass Mobbing die davon Betroffenen abhärtet.“ Erst 2014 führte das französische Strafgesetzbuch dieses Delikt ein, seit 2019 ist es im Bildungsgesetz erwähnt, erste Präventionsprogramme starteten.
Doch noch immer mache die Institution aus den Eltern die Schuldigen, wie der Brief der Schulbehörde von Versailles zeigte, klagte Nora Tirane-Fraisse, die nach dem Suizid ihrer Tochter vor zehn Jahren einen Verein gegründet hat. Es sei „schrecklich“, dass sich so wenig getan habe: „Noch immer ist es am Opfer zu beweisen, was ihm widerfährt. Und wo sind die Mobber von Nicolas?“