Eine dunkle Straße, ein schlurfendes Kind, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Zutaten für ein konventionelles Sozialdrama, denken sich erfahrene Krimi-Gucker schon bei der ersten Szene. Doch es kommt anders. Abgenutzt und angeranzt ist in der neuen Stuttgarter "Tatort"-Episode "Zerrissen" höchstens Bootz' braune Lederjacke, die den Kommissar seit Fall eins im Jahr 2008 in manche diesseitige Hölle begleitet hat. Diesmal wirft er sie nach einem Raubmord in einem Schmuck- und Uhrenladen über. Der Besitzer sitzt geschockt und zitternd am Boden, eine Kundin liegt erstickt auf dem Boden.
Was die Kommissare nicht wissen in diesem gekonnt montierten Fall (ARD, 20.15, Regie und Drehbuch: Martin Eigler, Sönke Lars Neuwöhner): Während die drei Täter im Laden wüteten, stand draußen ein 13-Jähriger Schmiere. Und hat's versaut, sonst wäre ja nicht die Kundin tot. So sehen es die Kriminellen, die dummerweise seine Familie sind. Faszinierend, wie es der Film schafft, um diesen Jungen namens David ein Netz zu spannen, in dem er sitzt wie die Beute einer gierigen Spinne. Mehrerer Spinnen, muss man eher sagen, denn von überallher zerrt es an dem Kind. Stark, wie der junge Schauspieler Louis Guillaume (2007 geboren) es schafft, die Episode auf seinen schmalen Schultern zu tragen und das ganze Dilemma Davids in seine Blicke zu legen.
David stammt aus der Kriminellenfamilie Maslov-Ellinger, sein Vater ist in Haft, sein Bruder Theo bei einem zwielichtigen Autorennen gestorben. Vor Davids innerem Auge lebt er weiter, begleitet ihn durch den Alltag. David selbst wohnt im Heim. Weil der Überfall auf den Schmuckhändler einem früheren Diebstahl ähnelt, gerät schnell Davids Familie unter Verdacht – und der Junge in einen Loyalitätskonflikt.
Spannung bis zum Schluss: Zuschauer verlieren jeglichen Wissensvorsprung
Hier seine kriminelle Familie, die er nicht enttäuschen will. Da seine Sozialarbeiterin und heimliche Liebe Annarosa (Caroline Cousin), die in Polizisten nur "Befehlsempfänger" sieht, und dort die Polizei selbst, die in dem verunsicherten Jungen die Chance sieht, seinen Familienclan hochgehen zu lassen. Lannert (Richy Müller) lässt David sogar am Steuer seines Porsches über einen Parkplatz heizen, um ihn zu "knacken". Diese Methoden bringen Bootz (Felix Klare) ins Grübeln. Mutig von den Machern, wie er die eigenen kleinen Manipulationen mit denen der Verbrecher vergleicht.
Fulminant ist der Schluss, als Realität und die Fantasie Davids endgültig durcheinandergeraten, man als Zuschauer jeden Wissensvorsprung gegenüber den Kommissaren verliert. Stirbt David? Rast er mit seiner Geliebten in Lannerts Porsche davon? Alles möglich – und so ergreifend, dass selbst Bootz' starrige Lederjacke weich werden müsste.