Lange hat die neue "Tatort"-Folge alles, um sich in die umfangreiche Chronologie der gelungenen Stuttgarter Fälle einzuordnen. Einen unbekannten Toten aus dem Wasser. Eine Liebesgeschichte in den leuchtenden Farben eines längst vergangenen Sommers. Zwei Freunde, die sich nach Jahrzehnten in der Gerichtsmedizin wiedertreffen, wo der eine dem anderen den Schädel aufsägen muss. Und zwei Kommissare, die angenehm entspannt harmonieren (während andere "Tatort"-Teams mit ihrer persönlichen Gereiztheit ab Minute eins an den Zuschauernerven zerren).
Doch auf der Straße vor dem Friedhof des fiktiven Örtchens Leimingen biegt der neue "Tatort: Vergebung" (Sonntag, 20.15 Uhr, ARD) falsch ab. Raus aus der Welt, in der der Tote zusammen mit seinem Jugendfreund, dem Rechtsmediziner (Jürgen Hartmann), und der undurchschaubaren Sandra (Ulrike C. Tscharre) Tag für Tag verbrachte. Stattdessen hinaus auf die breite Straße Richtung Großstadt, in eine Hochhauswelt voll dubioser Gestalten und zerbrochener Existenzen, unter denen am Ende die Lösung zu finden ist (Regie und Drehbuch: Rudi Gaul, Katharina Adler). Das nimmt dem Fall die intensive Spannung, die sich nach und nach aufgebaut hatte, seit ein Bagger die Leiche aus dem Wasser zog.
Es ist Mathias Döbele (Volker Muthmann), Schreiner aus Leimingen, schwer krank und offensichtlich ertrunken. Und er hatte Schmerzmittel im Blut. Gerichtsmediziner Vogt muss nun beurteilen, ob jemand durch eine Überdosierung nachgeholfen hat. Doch statt die Leiche richtig zu untersuchen, kehrt Vogt zurück in sein Heimatdorf und beginnt selbst nachzuforschen. Irgendetwas wollte der Tote ihm noch mitteilen, er hatte ihn kurz vor seinem Tod auf der Mailbox um einen Rückruf gebeten.
Die Idee zu diesem Krimi stammt von Schauspieler Jürgen Hartmann, der den Rechtsmediziner spielt und seinen düsteren Obduktionssaal endlich verlassen darf. Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) wundern sich mehr über ihren veränderten Kollegen, als dass sie ermitteln. "Kann man jahrelang mit einem Kollegen zusammenarbeiten und nicht wissen, wonach er sich sehnt, was ihn bedrückt?", fragt Bootz. Man kann. Das weiß man nicht erst nach diesem "Tatort".
Stuttgarter "Tatort" ist große Schauspielkunst
Vogt also wühlt in seiner Erinnerung und in den Kisten seines Jugendzimmers. Er findet seinen alten Walkman: Bonnie Tylers "Total Eclipse Of The Heart" auf einem ausgeleierten Kassettenband, im Kopf die Bilder eines warmen Nachmittags am Neckar, einer verhängnisvollen Runde "Wahrheit oder Pflicht". Rührend, wie Kindheit und Realität hier verknüpft werden. Bewegend und große Schauspielkunst, wie Vogt und die Sandra von damals sich sprachlos wieder gegenüberstehen, mit erschrockenen Augen Wissen teilen, das aber nie ausgesprochen wurde. Schade, dass dann die Großstädter kommen und einer vielversprechenden Geschichte ein konventionelles Ende bescheren.