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Südafrika: Rückkehr des gefallenen Helden: Oscar Pistorius wieder frei

Südafrika

Rückkehr des gefallenen Helden: Oscar Pistorius wieder frei

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    Oscar Pistorius bei seinem Berufungsprozess 2016 in Pretoria. Dabei musste er seine Prothesen ablegen und demonstrieren, wie er sich ohne Gehhilfen fortbewegen kann.
    Oscar Pistorius bei seinem Berufungsprozess 2016 in Pretoria. Dabei musste er seine Prothesen ablegen und demonstrieren, wie er sich ohne Gehhilfen fortbewegen kann. Foto: Siphiwe Sibeko, dpa

    Das letzte Zeitzeugnis einer sportlichen Betätigung von Oscar Pistorius, ja überhaupt die letzte öffentlich gewordene Aufnahme, ist ein wackliges Handy-Video. Es stammt aus dem Jahr 2015, aufgenommen offenbar von einem anderen Häftling. Zu sehen ist der ehemalige Paralympics- und Olympia-Star, wie er im Innenhof eines Gefängnisses in Südafrikas Hauptstadt Pretoria nebst dem ebenfalls verurteilten Mafia-Boss Radovan Krejčíř mit seinen Prothesen auf einen Fußball eindrischt.

    Der Aufschrei war groß. Pistorius, einst einer der größten Helden der für Pathos anfälligen Nation, war wenige Monate zuvor wegen tödlicher Schüsse auf seine Freundin Reeva Steenkamp zunächst nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Der entspannte Kick passte ins Bild des Prominentenbonus, der Pistorius damals allenthalben unterstellt wurde. Prompt organisierten die Gefängnisbehörden eine Medientour, wo auch eine kärgliche Zelle gezeigt wurde, in der Pistorius zeitweise untergebracht war. Und bald darauf wurde das Urteil auf Totschlag und das Strafmaß auf mehr als 13 Jahre korrigiert.

    Pistorius hielt seine Freundin Reeva Steenkamp für einen Einbrecher

    Nun wurde Pistorius, 37, an diesem Freitag vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen. Fast elf Jahre sind vergangen seit dem Verbrechen, das sich so sehr ins kollektive Gedächtnis der Nation gebrannt hat wie sonst wohl nur die politisch motivierten Morde an Steve Biko (1977) und Chris Hani (1993), Idole des Befreiungskampfes. Pistorius hatte in einem live im Fernsehen übertragenen Prozess ausgesagt, er habe Steenkamp versehentlich für einen Einbrecher gehalten und deshalb auf die geschlossene Toilettentür geschossen, hinter der sich seine Partnerin befunden hatte.

    Mit Mühe versuchen die südafrikanischen Behörden eine Wiederholung des damaligen medialen Spektakels zu verhindern, das die über drei Jahre anhaltende Justizschlacht begleitet hatte. Pistorius' Entlassung soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. „Er wird wie andere, die auf Bewährung freigelassen werden, nach Hause gebracht, und wir geben dazu keine Details bekannt“, teilt ein Sprecher der Gefängnisbehörden auf Anfrage mit. Das Prozedere solle unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.

    Oscar Pistorius im Jahr 2012 mit seiner Freundin, dem Model Reeva Steenkamp.
    Oscar Pistorius im Jahr 2012 mit seiner Freundin, dem Model Reeva Steenkamp. Foto: Frennie Shivambu, dpa

    Als Teil der Auflagen darf der gefallene Star das Anwesen seines Onkels, auf dem er voraussichtlich leben wird, nur zu bestimmten Zeiten verlassen. Auch der Konsum von Alkohol ist ihm untersagt, die Teilnahme an einem Programm zur Vermeidung geschlechtsspezifischer Gewalt sowie an einer Therapie zur Aggressionsbewältigung sind Pflicht. Der südafrikanische Boulevard, davon ist auszugehen, wird nichts unversucht lassen, das alles detailliert zu dokumentieren.

    Schon in den vergangenen Tagen berichteten die örtlichen Medien ausführlich über die bevorstehende Freilassung. Der Prozess war schließlich weit mehr als eine reißerische Geschichte über das persönliche Drama des ersten unterschenkelamputierten Leichtathleten, der sich für die Olympischen Spiele 2012 in London qualifizierte. 

    Oscar Pistorius war ohne einige Knochen in den Füßen geboren worden

    Bis zu seiner Tat galt er als der „Blade Runner“, der Klingenläufer, der schnellste Mann ohne Beine. Oscar Pistorius war ohne einige Knochen in den Füßen geboren worden. Im Alter von elf Monaten wurden ihm die verkrüppelten Unterschenkel amputiert. „Ihr zieht eure Schuhe an“, sagte die Mutter zu seinen beiden Geschwistern, „und du die Prothesen.“ Normalität auch ohne Beine, von Beginn an.

    Schon früh erkannte die große südafrikanische Sportmarketing-Agentur In-Site, die auch einige der bekanntesten Rugby-Spieler des Landes vertritt, das weltweite Vermarktungspotenzial Pistorius'. Er sah gut aus, war eloquent, nahbar. Es folgte die erste Biografie, hoch dotierte Verträge. Und mit rund 20 Jahren näherte er sich über die 400-Meter-Distanz den Zeiten der nicht behinderten Weltklassesportlern. 2012 trat er als erster Leichtathlet ohne Beine bei den Olympischen Spielen in London an – danach kannte ihn die ganze Welt.

    Dann kam die Nacht zum 14. Februar 2013. Pistorius stellte den Ablauf so dar: Mit Steenkamp verbrachte er die Nacht in seiner Villa in Pretoria. Der Profi-Sportler wachte auf, hörte ein Geräusch aus dem Toilettenzimmer. Er vermutete einen Einbrecher und griff nach der geladenen Pistole.

    Die Toilette war vom Rest des Badezimmers abgetrennt. Pistorius hörte wieder ein Geräusch und schoss vier Mal auf die Tür zur Toilette. Er lief zurück ins Schlafzimmer, wo er feststellte, dass das Bett leer war. Das war der Moment, in dem er seinen Angaben zufolge realisierte, dass Steenkamp in der Toilette war. Sie war tödlich getroffen worden.

    Die Richter glaubten Pistorius – das Totschlag-Urteil erfolgte dennoch

    Die detaillierte Aufarbeitung des Verbrechens, die vom Schmerz zerfurchten Gesichter von Steenkamps Angehörigen, erschreckte selbst die Südafrikanerinnen und Südafrikaner, die Realitäten wie zuletzt 27.000 Morde im Jahr sonst ein Stück weit verdrängen. Und die sich auf diese allgegenwärtige Gefahr mit privaten Sicherheitsdiensten, Alarmanlagen oder manchmal auch – wie Pistorius – eigenen Waffen irgendwie abzuschirmen versuchen. Zumindest die, die es sich leisten können. Die Richter glaubten Pistorius letztlich, das Totschlag-Urteil erfolgte dennoch, weil der Sportler mit seinen Schüssen billigend den Tod eines Menschen in Kauf genommen habe. Selbst wenn es ein Einbrecher gewesen wäre, habe von Notwehr keine Rede sein können.

    Der Fall warf ein Schlaglicht auf die Kriminalität in Südafrika, aber auch die enormen Einkommensunterschiede, das fast beispiellose Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und die Unzulänglichkeiten der Justiz, die sich immer wieder den Vorwurf anhören muss, dass sie sich von den Anwälten gut betuchter Angeklagter aushebeln lässt. Und auch Pistorius' weiße Hautfarbe spielte eine Rolle, obwohl das bisweilen komplexe Miteinander der ethnischen Gruppen in dem Fall eigentlich keine zentrale Rolle spielte. Zeitungen wie The Guardian stellten dennoch die Frage, wie der Fall wohl gehandhabt worden wäre, wenn der Angeklagte schwarz gewesen wäre. „Die einfache Auffassung war, dass weißer Reichtum gleichbedeutend mit dem Zugang zu höherer Gerechtigkeit ist“, schrieb das Blatt während des Prozesses.

    Oscar Pistorius durfte bei den Olympischen Spielen 2012 in London starten.
    Oscar Pistorius durfte bei den Olympischen Spielen 2012 in London starten. Foto: Franck Robichon, dpa

    Fast in Vergessenheit geriet, dass der Nation eines seiner populärsten Sportmärchen abhandengekommen war. Das mag angesichts der dramatischen Umstände banal klingen, doch der

    Mit Einführung der Demokratie versuchte Südafrika dann über den Sport zusammenzuwachsen. Als das Land 1995 die WM im Rugby, dem populärsten Sport der weißen Minderheit, ausrichtete und auch noch gewann, überreichte Präsident Nelson Mandela dem burischen Rugby-Kapitän Francois Pienaar die Trophäe. Die Nation feierte vereint. Südafrika wurde Gastgeber des Afrika-Cups im Fußball und der WM im Kricket – und schließlich der Fußball-WM 2010.

    Pistorius stand als Totschläger plötzlich für die düsteren Seiten Südafrikas

    Doch in den Jahren danach gewann das Land in seinen identitätsstiftenden Sportarten kaum noch etwas und versank im Korruptionssumpf des damaligen Präsidenten Jacob Zuma. Auch Stromnetz und Wirtschaftswachstum kollabierten. Die Geschichte von einem wie Pistorius, der als Sportler gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeit triumphierte, war eine dringend nötige Erinnerung an die schon immer utopisch anmutenden Ideale der „Regenbogen-Nation“. Sie hatte wie er einst alle Widerstände überwunden.

    Im vergangenen Jahrzehnt stand Pistorius als Totschläger dann plötzlich für die düsteren Seiten Südafrikas. Die Behörden wollen nun verhindern, dass diese über die Berichterstattung in den kommenden Tagen wieder im großen Stil ausgeleuchtet werden. Seit November, als die Aussetzung von Pistorius' Reststrafe zur Bewährung bekannt wurde, dürften lukrative Interview-Anfragen bei seiner Familie eingegangen sein – dem Vernehmen nach zeigten sich besonders britische Fernsehsender in dieser Angelegenheit emsig.

    Doch diese Angebote darf Pistorius zumindest bis zum Ende seiner Bewährungsstrafe Ende 2029 nicht annehmen. Seine Auflagen schließen Interviews kategorisch aus.

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