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Stockholm-Syndrom: Was ist das und wie entsteht es?

Psychologie

Stockholm-Syndrom: Wenn sich Geiseln in ihren Entführer verlieben

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    Den Namen erhielt das Syndrom wegen einer Entführung in Stockholm. Aber wie entsteht es?
    Den Namen erhielt das Syndrom wegen einer Entführung in Stockholm. Aber wie entsteht es? Foto: Jan Marcello Kahl/Bilderfest/Sky/Wow, dpa (Symbolbild)

    Es mag Paradox klingen: In einer so schrecklichen Situation wie einer Geiselnahme entstehen plötzlich Gefühle für den Täter. Was sich unglaublich anhört, scheint es tatsächlich zu geben: das Stockholm-Syndrom. Aber wie genau entsteht das Syndrom, wie häufig kommt es vor und wer bekommt es? Diese Fragen werden im Folgenden beantwortet.

    Stockholm-Syndrom: Was ist das Stockholm-Syndrom?

    Dorsch, das Lexikon der Psychologie, bezeichnet das Syndrom als "paradox erscheinende psychische Reaktion der Entwicklung einer emotionalen Bindung, Sympathie, Verbündung und Identifikation von Gewaltopfern mit dem Gewalttäter". Ein bekanntes Beispiel sind Opfer von Geiselnahmen, die ein positives, emotionales Verhältnis bis hin zu Sympathie zu ihren Geiselnehmern aufbauen. Laut dem Psychologie-Lexikon unterstützt das Opfer mit Stockholm-Syndrom den Täter beim Erreichen seines Ziels und handelt entgegen Rettern wie der Polizei, die die Befreiung anstreben. Die Opfer können sich nach der Tat mit den Tätern identifizieren, zeigen Verständnis für die Tat und bagatellisieren die Straftat im Nachhinein.

    Stockholm-Syndrom: Woher kommt die Bezeichnung?

    Der Begriff für das seltene Phänomen ist mittlerweile 50 Jahre alt. Namensgebend war ein Geiseldrama am 23. August 1973 in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Der damals 32-jährige Jan-Erik Olsson besetzte den Tresorraum einer Bank und nahm drei Frauen und einen Mann – alle Angestellte der Bank – als Geiseln.

    Während der sechstägigen Blockade entwickelten viele der gefangenen Bankangestellten Sympathien für die Bankräuber. Nachdem sie freigelassen wurden, weigerten sich einige Bankangestellte vor Gericht gegen die Bankräuber auszusagen, und sammelten sogar Geld für deren Verteidigung. Eine der Geiseln, Kristin Enmark, begann sogar später eine kurzzeitige Beziehung zu Olsson.

    Der Stockholmer Polizeipsychologe Nils Bejerot, der das Ereignis untersuchte, entwickelte den Begriff "Stockholm-Syndrom", um die Sympathie zu beschreiben, die einige Bankangestellte für die Bankräuber zeigten.

    Stockholm-Syndrom: Wie häufig ist es und wo tritt es auf?

    Am ehesten scheint das Stockholm-Syndrom bei Geiselopfern vorzukommen, welche sich dann mit dem Geiselnehmer verbunden fühlen. Neben der ursprünglichen Entführer-Geisel-Situation umfasst das Stockholm-Syndrom heute aber auch andere Arten von Traumata, bei denen eine Bindung zwischen dem Täter und der missbrauchten Person besteht, erklärt die Cleveland Clinic. Opfer von Kindesmissbrauch, sexuellem Missbrauch oder Kriegsgefangenschaft können laut dem Dorsch-Lexikon das Stockholm-Syndrom entwickeln.

    Wie häufig das Stockholm-Syndrom nach Geiselnahmen oder anderen Straftaten auftritt, lässt sich nicht sagen. Nur selten werden Daten über die psychische Befindlichkeit von Geiseln nach der Tat erhoben. Laut 1999 veröffentlichten Untersuchungen des FBI weisen etwa acht Prozent der Geiseln Anzeichen des Stockholm-Syndroms auf - dabei handelt es sich aber nicht immer um starke emotionale Bindungen wie Verliebtheit, sondern auch um schwache Sympathien oder nachträgliches Verständnis gegenüber der Tat.

    Stockholm-Syndrom: Beispielfälle

    Nicht nur die namensgebende Geiselnahme in Stockholm ist ein bekanntes Beispiel für das Syndrom geworden. Das wohl berüchtigtste Beispiel ist die Entführung der Zeitungserbin Patricia Hearst. Im Jahr 1974, etwa zehn Wochen nach ihrer Geiselnahme durch die terroristische Guerillagruppe Symbionese Liberation Army, half Hearst ihren Entführern, eine kalifornische Bank auszurauben.

    Das Syndrom wurde auch nach nach einer Flugzeugentführung im Jahr 1985 beobachtet: Obwohl die Passagiere des TWA-Flugs 847 eine mehr als zweiwöchige Geiselhaft über sich ergehen lassen mussten, zeigten einige Geiseln nach ihrer Freilassung Verständnis für die Forderungen ihrer Entführer. Ein weiteres Beispiel waren die britischen und amerikanischen Geiseln Terry Anderson, Terry Waite und Thomas Sutherland, die unabhängig voneinander von militanten Islamisten im Libanon entführt wurden und später angaben, von ihren Entführern gut behandelt worden zu sein, obwohl sie teilweise in Einzelhaft gehalten und in kleinen, unsauberen Zellen angekettet waren.

    Stockholm-Syndrom: Welche Erklärungen gibt es?

    Einen klaren Ursprung des Phänomens hat die Forschung noch nicht gefunden. Das Expertenzentrum Cleveland Clinic in den USA bezeichnet das Syndrom als psychologische Reaktion auf die Gefangenschaft. Die Mediziner betrachten die positiven Gefühle des Opfers gegenüber dem Täter als einen Bewältigungsmechanismus, mit dem das Opfer die Tage, Wochen oder sogar Jahre des Traumas oder des Missbrauchs übersteht.

    Im Dorsch werden weitere mögliche Ursachen zusammengefasst: So könnte das Opfer versuchen, durch Kooperation und Sympathie die eigenen Chancen zu erhöhen. Die Zusicherung des Täters, das Opfer bei Kooperation überleben zu lassen, erhöhe außerdem die Chance der Entwicklung positiver Gefühle wie Dankbarkeit. In Fällen, in denen die Opfer gemeinsam mit dem Täter Aufgaben erfüllen müssen, kann durch die Kooperation eine Einstellungsänderung des Opfers erfolgen. Außerdem nennt das Lexikon das Phänomen der Regression als möglichen Auslöser: Dabei handelt es sich um einen "Rückfall in kindliche Verhaltensmuster aufgrund der Erlebens vollständiger Abhängigkeit".

    Stockholm-Syndrom: Kritik und Zweifel

    Das Stockholm-Syndrom ist glücklicherweise sehr selten, seine Ursprünge umso unklarer. Das führt dazu, dass die Diagnose selbst oft in Kritik steht und von manchen Experten nicht anerkannt wird. So erkennt etwa die renommierte American Psychiatric Association (ASA) das Stockholm-Syndrom nicht an. In ihrem neuesten Diagnosehandbuch - einem Goldstandard für psychische Erkrankungen - findet sich die Diagnose nicht.

    Die beiden Mediziner Christian Lüdke und Karin Clemens schrieben in ihrer wissenschaftlichen Arbeit "Abschied vom Stockholm-Syndrom", vom derzeitigen Forschungsstand könne davon ausgegangen werden, dass es bisher keine empirisch-wissenschaftliche Studie gebe, mit der das sogenannte Stockholm-Syndrom umfassend erklärt und als Enddiagnose bestätigt werden könne. Als Fazit schreiben sie: "Damit ist die Frage, ob es das beschriebene Stockholm-Syndrom überhaupt gibt, noch nicht völlig geklärt."

    Das Gegenstück zum Stockholm-Syndrom: Lima-Syndrom

    Das Stockholm-Syndrom beschreibt die emotionale Bindung des Opfers zum Täter. Doch es gibt auch Fälle, bei denen es andersherum läuft: Dabei spricht man vom sogenannten Lima-Syndrom. Im Dorsch heißt es dazu: "Entgegen der eigenen Interessen schützt oder verschont der Aggressor die Opfer." Seinen Namen hat das

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