Am Morgen danach ruht der Fronhof in Solingen fast schon gespenstisch hinter dem Flatterband der Polizei. Die Stände, vor denen sich am Samstagmorgen eigentlich die nächsten Besucher versammeln sollten, wurden verrammelt, mitten auf dem Platz liegt wie vergessen ein umgestülpter Schirm. Er diente als Sichtschutz für den Ort, an dem am Vorabend drei Menschen nach einem Messerangriff starben. Auf die zweite Bühne rund hundert Meter weiter, vor der Händler ihre Stände abbauen, wurde eine Kerze projiziert.
Am Tag drauf sind nur wenige Menschen in der Altstadt von Solingen
Wenige Meter vor dem Absperrband haben Bürger eine Regenbogenfahne ausgebreitet, umringt von Kerzen und Blumen. Es sind nur wenige Menschen in der Altstadt unterwegs, trotzdem bleiben fast im Minutentakt Solinger vor den Kerzen stehen, umarmen die Seelsorger, reden leise. Stephan Schäfer-Mehdi, braun-graues Haar und schwarze Brille, bückt sich und legt einen Strauß Blumen an den Bordsteinrand. „Meine Frau war gestern hier“, sagt der Solinger, die Stimme zittert, er ringt um Fassung. „Ich kenne so viele Leute, die hier waren oder auf der Bühne aufgetreten sind.“ Er selbst sei zu Hause gewesen, als die Anrufe kamen.
„Ich habe Angst, dass dieser Hass, der gestern vor der Bühne stattfand, nun genutzt wird, um Hass gegen weitere Menschen zu entfachen.“ Gestern hätten Freunde mit Migrationshintergrund bei ihm angerufen, sie hätten furchtbare Angst, befürchten Ausschreitungen wie in England. „Ich habe das doch schon bei dem Brandanschlag 1993 erlebt“.
Die Tat am Vorabend sei „einfach nur schrecklich“, sagt Schäfer-Mehdi, dass der Täter noch frei herumlaufe, verunsichere. „Meine Frau ist heute Morgen nach Berlin gefahren. Ich habe sie zum Bahnhof in Hilden gebracht, damit sie nicht über Solingen fahren muss.“
„Wir alle hatten Angst und sind nach Hause“: Wie die Menschen in Solingen den Tag erlebten
Havva Yilmaz zündet vor dem Fronhof eine Kerze an. Die Solingerin war gestern Abend mit Freunden auf dem Fest, eigentlich wollte sie ihren Hochzeitstag mit ihrem Mann feiern. „Wir haben uns sehr gefreut auf die drei Tage, ich habe extra früher Feierabend gemacht“, sagt die 46-Jährige. Sie sei weiter gezogen zu DJ Topic in den Hofgarten. „Dann schreibt eine Freundin, die ist hier geblieben, dass ein Mann mit Messer rumläuft.“ Das habe sie erstmal gar nicht ernst genommen – zehn Minuten später dann doch: „Wir alle hatten Angst und sind nach Hause.“ Sie bricht ab und weint. Auch ihre zwanzigjährige Tochter sei unterwegs gewesen. „Jetzt will ich sie nicht mehr länger als 21 Uhr herauslassen, obwohl sie doch schon erwachsen ist“, sagt Yilmaz. Trotz allem sei es ihr wichtig, an diesem Vormittag zum Fronhof zurückzukehren.
Mitorganisator Philipp Müller pendelt am Tag danach zwischen Fronhof und Rathaus umher. Er war für das Musikprogramm verantwortlich, bis er um 21.37 Uhr einen Anruf des Bühnenmanagers bekommen habe: Jemand habe mit einem Großmesser Menschen „abschlachtet“. Müller wählt drastische Worte, andere finde er nicht, um das Grauen zu beschreiben, was sich am Vorabend abspielte.
Er sei zum Fronhof gegangen, auf den „Wahnsinnslärm“ zu. „Mir kamen schon Menschen entgegen“, sagte er. „Ich habe gesehen, dass Sanitäter mit Herzdruckmassagen versuchten, Menschen wiederzubeleben. Sie lagen in ihrem Blut.“ Die Stadt entschied, das Programm abzubrechen. Müller ging zunächst zur kleineren der zwei noch bespielten Bühnen, nahm dem Sänger das Mikrofon ab und wies die Solingerinnen und Solinger an, ohne Panik den Platz zu verlassen. „Weil der Täter nicht gefasst ist, war meine Hauptsorge: Er könnte zurückkommen“, sagte Müller. Bei seiner Ansprache habe er in paralysierte Gesichter geblickt.
Mit Blumen und Plakaten wird der Toten gedacht
Im Laufe des Nachmittags füllt sich das Blumenmeer vor dem Fronhof. Rechts daneben schreiben Solinger ihre Trauer auf ein Plakat nieder, irgendjemand hat ein Schild mit einem großen, roten „warum?“ aufgestellt. Zwischen Kerzen und Blumen steht ein kleiner Bilderrahmen mit dem Foto eines Mannes, der in die Kamera lächelt.
Ilka Werner steht mit einer Weste der Notfallseelsorger daneben. Die Alarmierung sei bereits am Abend gegen elf Uhr gekommen, sagt die Superintendentin des evangelischen Kirchenkreises Solingen. „Schickt alle, wir wissen nicht, was wir brauchen“, hieß es. Bis drei Uhr nachts sprach und schwieg Werner mit Menschen, die sich eigentlich auf dem Fronhof versammelt hatten, um zu feiern. „Manche von ihnen standen direkt daneben, als der Angriff passierte. Sie haben die Verletzten in den Armen gehalten.“ Am Samstagmorgen habe sie um kurz nach zehn wieder an der Stadtkirche direkt neben dem Fronhof gestanden. „Wir mussten die Kirche aufmachen“, sagt sie. Damit die Solinger einen Raum haben, für ihre Angst, Wut und Trauer. „Die Leute fragen: Warum? Wie kann so etwas geschehen? Es tut sich wirklich der Boden auf. Wir wollten drei Tage feiern und jetzt ist alles so anders.“
Für den Abend sei eine Trauerfeier für die Opfer geplant, so Werner. Ein bisschen Nervosität sei schon dabei, so viele Menschen auf einen Platz einzuladen – gerade, wo der Täter noch nicht gefasst ist. „Aber jetzt gar nichts, gar keinen Ort, gar keine Zeit anzubieten, um zusammenzukommen, geht aus meiner Sicht auch nicht.“
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