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Sexueller Missbrauch: Wie Kripobeamter Jörg Biehler Jagd auf Pädophile macht

Sexueller Missbrauch

Wie Kripobeamter Jörg Biehler Jagd auf Pädophile macht

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    Staufen im Breisgau, 8000 Einwohner, Postkarten-Idyll: Die Kleinstadt in Baden-Württemberg ist Ausgangspunkt gleich zweier schwerer Fälle von sexuellem Missbrauch.
    Staufen im Breisgau, 8000 Einwohner, Postkarten-Idyll: Die Kleinstadt in Baden-Württemberg ist Ausgangspunkt gleich zweier schwerer Fälle von sexuellem Missbrauch. Foto: Patrick Seeger, dpa

    Die schiere Menge ist kaum zu fassen. In einem Fall ging es um 30 Terabyte. 30 Terabyte, das entspricht etwa 15.000 Stunden HD-Videoqualität oder sechs Millionen Fotos, eine Zwölf-Megapixel-Kamera zugrunde legend. Die Dateien enthielten kinderpornografisches Material – Bilder und Videos. Jörg Biehler hat sie alle gesehen. Das muss er, denn der Kripobeamte ist der Kriminalinspektion I bei der Freiburger Polizei zugeteilt. Er ist zuständig für Sexualdelikte bei Minderjährigen.

    Seinen Job kann nicht jeder machen. Biehler selbst sagt, er habe den Posten zunächst auch nicht übernehmen wollen, aber dieser sei ihm dann so zugefallen. Jetzt kümmert er sich ausschließlich um solche Verbrechen. Deshalb will er nicht auf Fotos zu sehen sein. Als Ermittler bleibt er lieber unerkannt.

    Biehler hat in dem vor zwei Jahren bekannt gewordenen Missbrauchsfall von Staufen im Breisgau dazu beigetragen, dass ein ganzer Ring pädophiler Männer gesprengt werden konnte – europaweit. Teilweise laufen die Ermittlungen im Ausland noch, sie reichen weit in den Osten des Kontinents.

    Vor dem Freiburger Landgericht läuft derzeit der Prozess gegen den mutmaßlichen Haupttäter, der 42-jährige frühere Leiter einer evangelischen Pfadfindergruppe. Er soll sich über mehr als acht Jahre hinweg an vier Kindern und Jugendlichen im Alter von damals acht bis 14 Jahren vergangen haben, eines seiner Opfer soll er sogar wöchentlich gepeinigt haben. Vorgehalten werden ihm nun 330 Fälle von Kindesmissbrauch. An diesem Dienstag sollen die Plädoyers gehalten werden, am Mittwoch könnte schon das Urteil fallen.

    Man muss sich das mal vor Augen führen: Staufen ist eine Kleinstadt bei Freiburg, 8000 Einwohner, romantisches Postkartenidyll. Und ausgerechnet dieser Ort ist in den vergangenen Jahren offenkundig Schauplatz gleich mehrerer schwerer Missbrauchsfälle geworden. Auch der erste Fall ist in Staufen noch immer präsent. Ein Mann hatte jahrelang einen damals neunjährigen Jungen vergewaltigt – gemeinsam mit dessen Mutter – und ihn über das Darknet, einen verborgenen Teil des Internets, an Pädophile "verkauft". Die Mutter und ihr Lebensgefährte wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Fall hatte das ganze Land erschüttert.

    Der Angeklagte stand schon einmal vor Gericht - und wurde freigesprochen

    Jetzt also ein zweiter Pädophilenring, wohl ausgehend von Christian L., dem Angeklagten. Er stand schon einmal vor Gericht, 2004, ebenfalls wegen sexuellen Missbrauchs. Weil das Gericht allerdings nicht zweifelsfrei seine Schuld feststellen konnte, wurde er 2007 freigesprochen. Die Ermittler sind zuversichtlich, dass die Beweise diesmal ausreichen.

    Christian L. (rechts), Angeklagter im zweiten Staufener Missbrauchsfall, beim Prozessauftakt im Januar in Freiburg.
    Christian L. (rechts), Angeklagter im zweiten Staufener Missbrauchsfall, beim Prozessauftakt im Januar in Freiburg. Foto: Patrick Seeger, dpa

    Für Jörg Biehler sind Erfolge wie diese die Motivation für seine schwierige Aufgabe. In der Regel muss er pro Fall drei bis fünf Terabyte an Daten sichten. Das kann ihm niemand abnehmen.

    "Es macht etwas mit einem", sagt Biehler ganz ohne Umschweife. Er hat selbst Kinder, eines davon war damals so alt wie der Junge, der im Zentrum seines ersten Falls stand, des ersten Missbrauchsskandals von Staufen. Biehler begann sich in dieser Zeit selbst zu hinterfragen: Wie wirkt es auf andere, wenn er sein eigenes Kind in den Arm nimmt und herzt?

    Der Fall ging nicht nur ihm an die Nieren. Die Kripo Freiburg ermittelte unter Hochdruck, teils mit aufgestocktem Personal. Es sollten ja auch die Männer hinter Gitter gebracht werden, die dem Haupttäter Geld gezahlt hatten, um sich an dem Jungen vergehen zu können. Und natürlich der Haupttäter selbst. Wie der Angeklagte im zweiten Fall kam auch der damalige aus Staufen, hieß ebenfalls Christian – und sein Nachname begann ebenfalls mit L.

    Schon die Sichtung des Materials überstieg das, was mancher Mitarbeiter in der Kriminalinspektion auszuhalten vermochte. "Unsere Schreibkräfte kamen grün um die Nase heraus", erinnert sich Biehler an die Stunden, in denen er den Wortlaut der sichergestellten Videos verschriften musste. Schließlich schaffte die Kripo ein Spracherkennungssystem an, damit Biehler selbst diktieren konnte und nicht mehrere Beamte mit dem belastenden Inhalt umgehen mussten.

    Der Polizist sagt: "Zwischenmenschlich verändert das vieles"

    "Zwischenmenschlich verändert das vieles", sagt Biehler kryptisch. Was er meint, ist wohl, dass eine gewisse Naivität verloren geht. "Man traut es eigentlich jedem zu", erklärt er schließlich. "Das ist die Erkenntnis von Staufen."

    In dem ersten Fall passte der Tatvorwurf vermeintlich zu dem Menschen, der da auf der Anklagebank saß. Der Außenseiter mit dem stechenden Blick, den dunklen Augen, wirkte wie das personifizierte Böse – ihm trauten viele Prozessbegleiter auch zu, was er selbst schon zugegeben hatte.

    Seit dem vergangenen Jahr ermittelt Biehler in dem unter Beamten als Staufen II bezeichneten Fall um den ehemaligen Pfadfinder-Betreuer, der mehrere Jungen sexuell missbraucht haben soll. Dieser Christian L. hatte einen ganz anderen Stand in der Kleinstadt. Der blonde "Sunnyboy", wie Biehler ihn nennt, war ein beliebter und bekannter Mitarbeiter in einem Radgeschäft, ehrenamtlich aktiv bei den Pfadfindern, nett zu Kindern.

    Biehler fragt sich, wer das größere Monster ist: der Mann, der das Kind seiner Partnerin übers Darknet als Sexobjekt an Pädophile verkaufte, oder der Mann, der methodisch Beziehungen zu seinen Opfern aufbaute, sich zu einer Vaterfigur stilisierte, um dann das Vertrauen der Kinder auf grausame Weise zu missbrauchen. Der Ermittler darf sich kein Urteil erlauben. Er kann nur Beweise sammeln.

    Doch Biehlers Erfahrung hat gezeigt, dass es keinen Berufsstand und keine gesellschaftliche Schicht gibt, in der es keine Pädophile gibt – selbst seinen eigenen Berufsstand, das betont Biehler, kann man da nicht ausnehmen. Das Bild des perspektivlosen Verlierers mit der verkorksten Kindheit passte bei dem einen Christian L., dem Mann mit dem dämonischen Blick.

    Aber in vielen anderen Fällen passt es nicht. Der Bundeswehrsoldat, der in seiner Freizeit Kinder missbraucht, ist nur ein Beispiel. Auch betuchte Unternehmer gibt es, die heimlich ganze Orgien mit Kindern organisieren. Treffen im Untergrund, zu denen die Teilnehmer Kinder mitbringen, sie mit den anderen "tauschen", missbrauchen, tagelang. Das alles gibt es. Nicht irgendwo, sondern in Europa.

    Häufig führen die Spuren ins Ausland. Entweder, weil die Server irgendwo in Asien stehen, auf denen die Bilder und Videos gespeichert wurden. Oder, weil es Hinweise auf die mutmaßlichen Täter gibt, die sich außerhalb der Bundesgrenzen aufhalten. "Unsere Kompetenz endet an der Landesgrenze", sagt Biehler etwas konsterniert. Aber: "Bei Staufen hat es sehr gut funktioniert", mit anderen europäischen Ermittlern zusammenzuarbeiten, betont er.

    Ständig gibt es neue Fälle von sexuellem Missbrauch

    Daniel Müller ist Biehlers Vorgesetzter. Er betont immer wieder, dass er seine Leute nicht zwingen kann, den Job zu machen. Und wenn jemand aussteigen will, dann muss er diesem Wunsch Folge leisten, erklärt er. Biehler macht seit dem ersten Staufener Fall nichts anderes mehr. Er bekomme "permanent" Fälle sexuellen Missbrauchs auf den Schreibtisch, sagt sein Chef. Er versucht, die Details zu finden, die die Täter verraten, die Fehler zu entdecken, die sie vielleicht irgendwann einmal machen.

    Die wichtigsten Helfer bei den Ermittlungen aber sind meist die Kinder: Die Vernehmung soll so kindgerecht wie möglich sein. Und möglichst nur ein Mal, um das Trauma der Kinder nicht noch zu vergrößern. Umso intensiver müssen sich die Ermittler vorbereiten, betont Müller. Es gibt einen speziellen Raum, in dem die Kinder zu ihren Erlebnissen befragt werden. Ein normaler, nüchterner Vernehmungsraum, das ginge nicht. Die Eltern dürfen dabei sein, sofern sie nicht tatverdächtig sind.

    Biehler fällt es nicht leicht, die Kinder dazu zu bewegen, alles noch einmal so genau wie möglich zu erzählen. Aber, sagt er, "oft sind die Kinder erleichtert, wenn es raus ist". Das erlebe er immer wieder. Als falle eine Last von ihnen ab, jetzt, wo Erwachsene davon wissen.

    Der Kripobeamte ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen, wie im zweiten Staufener Fall, sich nicht wie Opfer fühlen. "Das ist schon heftig, wenn starke Jungs, wie sie heutzutage eben so sind, plötzlich vor dir sitzen und weinen", sagt er. Und er muss nach den unangenehmen Details fragen. Denn strafrechtlich gibt es einen Unterschied zwischen sexuellem Missbrauch und schwerem sexuellen Missbrauch. Mädchen hätten es leichter, darüber zu reden, sagt Biehler. Bei Jungs sei es häufig schwieriger. Im zweiten Staufener Fall sei es so gewesen, dass der Betroffene, der die Ermittlungen ins Rollen brachte, erst durch die Berichterstattung der Medien über den ersten Staufener Missbrauchsfall an seine eigenen Erlebnisse erinnert wurde, die er zuvor offenbar verdrängt hatte.

    Und dann war da dieses Video mit einer Dreijährigen

    Für den Ermittler ist die Arbeit mit den Videos und Bildern aber die schwierigere. Er erzählt von einem Video mit einer Dreijährigen, die sexuell missbraucht wurde. Die Erwachsenen um sie herum hatten ihr suggeriert, dass das normal sei. Das Mädchen wurde später auffällig im Kindergarten. Was geschehen war, rekonstruierte Biehler im Lauf der ersten Staufener Ermittlungen. Er appelliert an die Menschen in der Umgebung von Kindern. Oft verrieten Verhaltensänderungen, dass etwas nicht stimme. "Das sind massive Eingriffe im Leben eines Kindes", betont Biehler. Das äußere sich fast immer in einer Wesensveränderung. Erwachsene, findet der Ermittler, müssen genauer hinschauen.

    Ihm ist wichtig, dass die Opfer Gerechtigkeit erfahren. Vielen Betroffenen helfe es, nur zu hören, wenn der Richter die Tat als Unrecht bezeichne. Der Freiburger Kripobeamte findet es manchmal schade, dass er die Menschen, denen er durch seine Ermittlungen helfen konnte, nicht weiter begleiten kann, sehen kann, was aus ihnen geworden ist. Wenn er seine Erkenntnisse vor Gericht im jeweiligen Prozess geschildert hat, ist seine Arbeit beendet.

    Andere begleiten ihn noch immer. Der erste Staufener Missbrauchsfall vor allem. Biehler ist Mitglied jenes Vereins, der nach dessen Bekanntwerden gegründet wurde, um den betroffenen Jungen zu unterstützen. "Das war schon eine herausragende Geschichte", sagt Biehler über den Fall und seine Tragweite.

    Für ihn geht die Arbeit weiter – mit neuen Fällen. Biehlers Spurensuche beginnt von Neuem.

    Lesen Sie dazu auch: So funktioniert die Jagd auf Kinderschänder-Plattformen

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