Leere Straßen, ein Rückgang der Treibhausgasemissionen, bessere Luftqualität - von diesen positiven Nebeneffekten der Corona-Krise profitiert derzeit unsere Umwelt. Doch der gesellschaftliche Stillstand, auch Lockdown genannt, hat noch weitreichendere Folgen. Wir Menschen bleiben zu Hause und unser Planet wird buchstäblich ruhiger. Seismologen melden weltweit Auswirkungen der Schutzmaßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie auf die Schwingungen der Erde.
Weltweit messen Seismologen während Corona-Krise geringeres Hintergrundrauschen
Thomas Lecocq, Seismologe am Königlichen Observatorium von Belgien in Brüssel, veröffentlichte im März über den Kurznachrichtendienst Twitter Messungen, die zeigen: Das seismische Hintergrundrauschen ist so gering wie normalerweise an Feiertagen oder am Wochenende. Das Phänomen löste nicht nur unter Fachleuten einen Wow-Effekt aus, neben Berichten in der renommierten Fachzeitschrift Nature oder in National Geographic griffen auch Medien wie CNN und die New York Times das Thema auf. Doch was steckt hinter der Faszination?
Mit seismischem Hintergrundrauschen bezeichnen Geophysiker das ständige Rauschen des Planeten Erde, welches niemals aufhört. Auch unsere Schritte, das Schleudern der Waschmaschine, Straßenbahnen, Lastwagen, Sägewerke - jede Bewegung löst verschieden starke Vibrationen im Boden aus. Diese direkt oder indirekt von Menschen gemachten Erderschütterungen verursachen bei seismischen Messungen Störwellen, auch anthropogener Noise genannt. Neben anderen Faktoren wie dem Rauschen der Ozeane (Meeresmikroseismik) bilden diese vom Menschen verursachten Vibrationen das seismische Hintergrundrauschen.
Wie vielfältig die Ursachen sind, erklärt Stefanie Donner, Seismologin beim Erdbebendienst des Bundes. "Eigenschwingungen des gesamten Planeten, sehr starke Erdbeben wie das in Japan 2011, Stürme, das Schlagen der Wellen an den Küsten der Kontinente oder eben menschliche Aktivität wie zum Beispiel Straßenverkehr und Industrieanlagen oder eben die Bewegungen der Menschen in einer Stadt" - all das verursache ein beständiges Rauschen.
Reduktion des Rauschens beweist, dass sich viele Menschen an Corona-Maßnahmen halten
Einen Rückgang eben dieses seismischen Hintergrundrauschens verzeichnen nun vorwiegend Länder wie Italien und Spanien, in denen ein strenger Lockdown herrscht und auch die Industrie durch die Corona-Krise zum Erliegen kam. An manchen Messstationen können daher jetzt auch kleinere Erdbeben registriert werden, die sonst im Rauschen untergehen würden. Die jetzige Situation sei daher für die Wissenschaft interessant und einmalig, so Stefanie Donner. "Es bietet eine gute Gelegenheit, die nicht-menschengemachten Rauschverhältnisse in dicht bewohnten Gebieten zu studieren." Doch auch wenn nun das erdgemachte Rauschniveau für Seismologen überprüfbar sei, fügt Donner hinzu, "es wird die Seismologie nicht revolutionieren".
Aus ihrer Sicht ist eine Reduktion des Hintergrundrauschens als Effekt der Corona-Krise deshalb so faszinierend, weil das beweise, wie schnell Menschen sich auf drastische Änderungen einstellen können. "Für die Menschen kann es in der jetzigen Situation motivierend sein, zu wissen, dass die soziale Distanzierungsstrategie funktioniert. Und: Man ist nicht allein! Die Rauschreduktion ist nur sichtbar, weil viele Menschen sich beteiligen", bemerkt die Seismologin.
Der belgische Forscher Thomas Lecocq hat - begeistert von diesem Effekt - einen Aufruf gestartet, auf den sich bislang etwa 50 internationale Wissenschaftler gemeldet haben. Auch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) am Geozentrum Hannover, wo Stefanie Donner tätig ist, beteiligt sich an diesem Projekt. Derzeit laufen Koordinierungen, Datenbeispiele aus den verschiedensten Winkeln der Erde zusammenzutragen und diese für eine wissenschaftliche Veröffentlichung zu bündeln. "In Deutschland lässt sich der Effekt nicht so deutlich sehen wie in anderen Staaten, da wir keinen harten Lockdown haben. An einigen wenigen Stationen lassen sich aber Effekte sehen wie zum Beispiel an der Zugspitze", so Donner.
In Bayern ist nur an der Zugspitze ein deutlicher Unterschied auszumachen
Das bestätigt auch Joachim Wassermann, Leiter der Abteilung Seismologie des Geophysikalischen Observatoriums der Ludwig-Maximilians-Universität in Fürstenfeldbruck. Die Gründe für den deutlichen Rückgang an der Zugspitze sind auch für Laien einleuchtend: Seilbahn und Zahnradbahn stehen still, der Tourismus bleibt aus. Der Erdbebendienst Bayern nimmt ebenfalls an dem von Thomas Lecocq initiierten Projekt teil. "Der Aufruf ging international raus und jeder schaut jetzt darauf. Die Daten sind deutlich und erschreckend. Ob da aber eine große wissenschaftliche Erkenntnis herauskommt, wage ich zu bezweifeln", so Joachim Wassermann. Entscheidend sei dafür auch, wie lange der Lockdown geht und wie viele Orte Daten schicken.
Interessant ist, dass in Bayern mit Ausnahme der Zugspitze kein deutlicher Unterschied im Rauschniveau auszumachen ist. Auch Joachim Wassermann hat dafür keine eindeutige Erklärung. Er vermutet eine Ursache im weiterhin bestehenden Bau- und Industriebetrieb sowie im anhaltenden Verkehr. "Der Lockdown ist in Bayern ja nicht absolut. Es gibt weiter Straßenverkehr mit Lastwagen oder auch Zugverkehr. Auch die S-Bahnen und Trambahnen sind unverändert starke Noise-Quellen." Die Messstation in der Münchner Innenstadt zeige zwar einen leichten Rückgang des seismischen Hintergrundrauschens, jedoch lange nicht so beeindruckend wie in Italien, wo die Industrie komplett lahmlegt sei.
Allgemein verlegen Seismologen laut Wassermann ihre Messstationen jedoch bewusst an abgelegenere Orte, sodass sie möglichst ohne Störwellen ihre Aufzeichnungen machen können. Diese seien nur geringen anthropogenen Erschütterungen ausgesetzt und die Auswirkung von Kontaktsperren und Corona-Schutzmaßnahmen auf das seismische Hintergrundrauschen daher entsprechend niedrig. Allgemein kämpfe man hier durch die zunehmende Verdichtung der Besiedlung mit Gewerbegebieten, Ortsumgehungsstraßen oder Windkrafträdern eher mit einer Zunahme an Störwellen. Dadurch würden Messstationen blinder für kleine Erdbeben, wobei die Seismologen gerade diese messen sollen.
Weihnachten wirkt sich bundesweit auf das Rauschniveau stärker aus als die Corona-Krise
Fazit: An Messorten mit dichter Besiedlung sind die Auswirkungen sehr stark sichtbar - gerade in Ländern mit strengem Lockdown. In Nepal wiederum, das ebenfalls einen sehr deutlichen Rückgang des seismischen Rauschens meldet, liege die Ursache in der Bodenstruktur. Joachim Wassermann erklärt: "Dort sind die Stationen meist in Tälern und diese sind sedimentbefüllt, das heißt, sie haben sehr weiche Böden, die die Erderschütterungen wiederum sehr weit tragen." Wenn die Störwellen wegfallen, sehe man das daher auch deutlicher als andernorts.
Beiden Seismologen ist kein Großereignis aus der Vergangenheit bekannt, das sich derart auf die Messungen der Seismographen ausgewirkt hätte. Nachhaltig wird sich der aktuelle Trend zu einem Rückgang des seismischen Hintergrundrauschens wohl nicht halten. Ein Rebound-Effekt sei garantiert, ist sich Stefanie Donner sicher. "Wenn die Menschen ihr ursprüngliches Leben wieder aufnehmen können, wird sich auch das Rauschniveau wieder auf das Vor-Corona-Level einpegeln."
Unabhängig von Corona-Maßnahmen gibt es im Rauschniveau bundesweit einen deutlichen Unterschied zwischen Arbeitstagen und Wochenende. Am deutlichsten sehe man den Rauschrückgang jedes Jahr zu Weihnachten und zu anderen hohen Feiertagen, wenn sich die Menschen auf ihre Familien und Freunde besinnen, so Stefanie Donner. Auch Joachim Wassermann bestätigt: Zwischen Weihnachten und Neujahr seien deutlich extremere Rückgänge des Rauschens messbar als im Zeitfenster seit der sozialen Distanzierung ab 22. März.
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