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Schweiz: Ein Dorf am Abgrund: "Ich warte bis zum letzten Moment"

Schweiz

Ein Dorf am Abgrund: "Ich warte bis zum letzten Moment"

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    Das Dorf Brienz droht verschüttet zu werden.
    Das Dorf Brienz droht verschüttet zu werden. Foto: Kurt Winkler, CSD Ingenieure

    Noch ragt der Turm der Pfarrkirche Sankt Calixtus in die Höhe. Das Gotteshaus wurde im September des Jahres 1519 geweiht, es bildet den Mittelpunkt des malerischen Dorfes Brienz mit 85 Bewohnern. Lange Zeit zog der Ort im Schweizer Kanton Graubünden Feriengäste an. Touristen dürften sich in diesen Tagen jedoch nicht mehr in das Idyll auf 1150 Meter wagen. Denn

    Hunderttausende Kubikmeter Geröll und Bewuchs des nahen Berges drohen auf den Ort zu prasseln. Im schlimmsten Fall könnte das Gestein ganz Brienz unter sich begraben. Die Katastrophe dürfte irgendwann zwischen Mitte Mai und Mitte Juni den Ort heimsuchen. Das befürchtet die Gemeinde Albula/Alvra, zu der Brienz gehört. In Brienz herrscht jetzt Alarmphase Gelb. Die Gefährdungslage, so räumt die Gemeinde ein, habe "sich weiter verschärft": Die Dörfler müssen "die Vorbereitungen für ihre Evakuierung so rasch wie möglich" abschließen.

    In Brienz sitzen die meisten Leute auf gepackten Koffern

    "Wenn man denkt, dass man sein eigenes Dorf verlassen muss – das belastet die Bevölkerung schon stark", gesteht Gemeindepräsident Daniel Albertin gegenüber dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Spätestens seit Ausrufung der Phase Gelb Anfang Mai sitzen die meisten Leute in Brienz auf gepackten Koffern. "Meine Akte habe ich parat, aber ich warte bis zum letzten Moment", sagt Elisabeth Arpagaus. Vor ihr stehen eine Tasche mit Dokumenten, daneben ein robuster blauer Koffer. Eine andere Dörflerin, Lina Deluermoz, zeigt ihre Unterkunft, holzgetäfelt, gemütlich. Auch für sie stehen die Zeichen auf Abschied. Es könnte ein Abschied für immer sein. "Das macht einem schon Angst."

    Die Menschen in der Risikozone richten ihre sorgenvollen Blicke vor allem auf 500.000 Kubikmeter Fels und Geröll unterhalb der sogenannten Hauptabrisskante des Berges. Die Gesteinspartie trägt den Namen "Insel". "Der Teilbereich Insel mit einem geschätzten Volumen von rund zwei Millionen Kubikmeter hat sich weiter beschleunigt", lasen die erschrockenen Dorfbewohner in den letzten "Informationen zum Brienzer Rutsch".

    Die Insel droht demnach teilweise oder ganz abzubrechen. Die Szenarien reichen von zahlreichen Felsstürzen mit tausenden Kubikmetern über einen langsam abrutschenden Schuttstrom bis zu einem gigantischen Bergsturz mit mehr als 500.000 Kubikmetern.

    Anfang 2020 gab es bereits 40 bis 60 Steinschläge pro Tag

    Schon seit Jahren poltern Felsbrocken ins Tal. Die Gemeinde registrierte Anfang 2020 bei Brienz 40 bis 60 Steinschläge pro Tag. Einige haben es durchaus in sich. "Sie waren schon so groß wie ein VW-Bus", sagt der Pressesprecher der Gemeinde, Christian Gartmann. Bereits 1877, so berichten es die Chroniken, begann nordöstlich des Dorfes eine Felsmasse von 13 Millionen Kubikmetern talwärts zu rutschen. Da die Rutschung "relativ langsam und über mehrere Wochen erfolgte, kamen keine Menschen zu Schaden", heißt es.

    Erdrutsch in der Schweiz: Pressesprecher Christian Gartmann informiert die Anwohner des Dorfes. Das Bergdorf Brienz wird wegen des drohenden Felssturzes evakuiert.
    Erdrutsch in der Schweiz: Pressesprecher Christian Gartmann informiert die Anwohner des Dorfes. Das Bergdorf Brienz wird wegen des drohenden Felssturzes evakuiert. Foto: Gian Ehrenzeller/Keystone, dpa

    Nicht nur die Hänge, das ganze Dorf gleitet ab. Und zwar immer schneller. In den vergangenen 100 Jahren bewegte sich Brienz, so schreibt es die Gemeinde, wenige Zentimeter pro Jahr talwärts. In den letzten 20 Jahren nahm die Rutschung an Fahrt auf. Zurzeit beträgt die Geschwindigkeit rund einen Meter pro Jahr. Die Folge: Risse ziehen sich durch Häuser und Ställe, Türen und Fenster klemmen, einzelne Gebäude mussten als Totalschaden abgeschrieben werden. Der Kirchturm steht schief. Neubauten sind verboten.

    Warum der Berg immer schneller rutscht, weiß keiner

    Im Kern lässt sich das Phänomen so erklären: In der Region ruht hartes Gestein auf dem weichen "Flysch-Schiefer". Zudem befindet sich im Erdinneren viel Wasser, zusammen ergibt sich eine Gleitfläche: Das Dorf rutscht so immer weiter ab. In etwa die gleiche Konstellation ermittelten die Geologen auf dem Berg. Eine harte, spröde Kuppe liegt auf weichem Schiefer. Die obere Schicht gleitet immer weiter weg. "Wir wissen aber nicht, warum die Rutschungen sich nun so beschleunigen", betont der Geologe Stefan Schneider. Der Klimawandel spielt seiner Meinung nach keine Rolle. "Mit großer Wahrscheinlichkeit läuft das alles unabhängig von der Erderwärmung ab."

    Die Anwohner wurden aufgefordert wegen eines drohenden Felssturz ihre Häuser zu verlassen.
    Die Anwohner wurden aufgefordert wegen eines drohenden Felssturz ihre Häuser zu verlassen. Foto: Gian Ehrenzeller/Keystone, dpa

    Die Brienzer konzentrieren sich jetzt auf die Evakuierung. Sie müssen sich an die Instruktionen der Gemeindeoberen halten. "Bereiten Sie Ihre Wohnung für Ihre Abwesenheit vor: Elektrogeräte ausschalten, Gas- und Wasserhahn schließen, offene Flammen löschen, Fenster schließen und Haustüre abschließen", lauten die Anweisungen. Die Brienzer sollen mit privaten Transportmitteln ihr Dorf verlassen, über einen festgelegten Fluchtkorridor. In der höchsten Alarmphase Rot gilt dann ein "totales Betretungsverbot für das evakuierte Gebiet".

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