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Schlagertage Friedberg: Wie Schlager wieder populär und sexy wurde

Schlagertage Friedberg

Wie Schlager wieder populär und sexy wurde

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    „Und dann die Hände zum Himmel, komm lasst uns fröhlich sein“: Auf den Schlagertagen in Friedberg wurde getanzt, geklatscht, gefeiert – und natürlich auch mitgesungen.
    „Und dann die Hände zum Himmel, komm lasst uns fröhlich sein“: Auf den Schlagertagen in Friedberg wurde getanzt, geklatscht, gefeiert – und natürlich auch mitgesungen. Foto: Silvio Wyszengrad

    Das Ziel der Reise ist also Wolke sieben. Mit einer neuen Liebe und einem Schlafsack im Gepäck. Gut, ob es am Sehnsuchtsort der Gefühlswelt eine solch wärmende Hülle braucht, sei dahingestellt. In diesem Moment aber interessiert das niemanden. Wer hier im Partyzelt mitsingt, klatscht, hüpft, sich beim Blick auf die Bühne zu träumen traut, ist Vanessa Mai ohnehin längst erlegen. Mai, 25, Kategorie Topmodel, weiß ganz genau, wie sie die Sehnsucht aus den tausenden Augen um sich herum herauskitzelt. Mit ihren Texten, aber auch mit knappem Top und schwarzer Hose, die einen durchtrainierten Bauch einrahmen. Sie schwingt die offenen, schulterlangen Haare und ihre Hüften im Takt, schmachtet dann ins Mikrofon: „Nur der Himmel und wir zwei…“ Und so mancher Mann im Publikum mag sich vorstellen, wer dieser zweite Jemand sein könnte.

    Die Emotionen können schon mal verrückt spielen um diese Uhrzeit. Samstagnacht, halb zwölf, es ist das Finale der Schlagertage in Friedberg. Das eigens aufgebaute Zelt am Baggersee östlich von Augsburg erlebt den zweiten Tag Partywahnsinn. Insgesamt knapp 5000 Besucher sind gekommen, um die Großen der Branche zu sehen: Jürgen Drews, Mickie Krause, Michelle oder eben Vanessa Mai, die mit ihrem krachenden Auftritt die Veranstaltung abschließt.

    Die WM machte die Identifikation mit Deutschland wieder salonfähig

    Gerade Mai, der neue Stern am deutschen Schlagerhimmel, steht für die Entwicklung des Genres. Denn Schlager, das ist längst mehr als die belächelte Nischenbeschallung schunkelnder Senioren. Schlager ist wieder populär, erfolgreich, sexy. Das zeigen Veranstaltungen wie in Friedberg. Aber auch ein Blick in die offiziellen deutschen Charts. 

    2010 waren noch 38 Schlager-Alben in den Top 100 vertreten, 2016 waren es bereits 67. Die Helene Fischers und Vanessa Mais dieses Landes begeistern die Massen. Was gerade jungen Menschen einst als Inbegriff musikalischer Spießigkeit galt, ist heute nicht nur geduldete, sondern akzeptierte, zu bestimmten Gelegenheiten sogar bevorzugte Feiergrundlage. Laut einer Umfrage bezeichnet sich mittlerweile jeder dritte 18- bis 24-Jährige als Schlagerfan. Aber warum auf einmal?

    Wer darauf Antworten sucht, muss mit Ingo Grabowsky reden. Dem Kulturwissenschaftler und Historiker, den eine Boulevardzeitung einmal „Professor Schlager“ nannte. In Deutschland gibt es kaum einen Experten, der sich derart eingehend mit dem Genre und seiner Geschichte beschäftigt hat. Grabowsky sagt: Wer den heutigen Schlagerboom verstehen will, muss in die NS-Zeit zurückblicken. 

    Damals instrumentalisierten die Nazis den Schlager für ihre Propaganda. Mit diesem Makel hatte die Musik lange zu kämpfen. „In den 70ern war der Schlager verpönt, weil er bei vielen als deutschnational galt und an die NS-Zeit erinnerte“, erklärt der Experte. Ein Misstrauen, das erst die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 aus den Köpfen verbannte. Das schwarz-rot-goldene Sommermärchen vereinte Deutschland. Und schaffte neue Perspektiven für die Musik. „Seit der WM ist die Identifikation mit Deutschland und deutscher Sprache endgültig wieder salonfähig“, sagt Grabowsky.

    Helene Fischer hat den Schlager aus der Versenkung geholt

    Und der Schlager profitiert davon, dass sich der Wert der Musik verändert hat. Früher identifizierten sich Fans deutlich mehr mit einem Künstler, wenn sie für viel Geld seine Schallplatte gekauft hatten. Heute gibt es Lieder günstig zum Download – oder kostenlos im Internet. Das allgegenwärtige Angebot durch Spotify, Youtube & Co. verringert die emotionale Bindung zur Musik – und damit auch Vorbehalte gegenüber dem Schlager. „Der Heavy-Metal-Fan kann mittlerweile ohne schlechtes Gewissen zum Helene-Fischer-Konzert gehen“, sagt Grabowsky.

    Ja, beim Thema Schlager kommt keiner an ihr vorbei. Fischer hat ihn endgültig aus der Versenkung geholt und ist heute sein Gesicht. 2014 war ihr Monster-Hit „Atemlos“ der Titel, der in der Kabine der Fußball-Nationalelf lief – und auch beim Empfang der Weltmeister am Brandenburger Tor. Schlager als nationales Musikgut, was für ein Statement. Am vergangenen Freitag kam Helene Fischers neues Album auf den Markt. Die Boulevardblätter spielen seitdem verrückt, die Plattenfirma hofft auf neue Umsatzrekorde. Alleine in München tritt die Vorzeige-Sängerin 2018 fünfmal in der Olympiahalle auf.

    Doch Schlager ist mehr als Fischer. Das zeigen nicht nur die Schlagertage, die zum ersten Mal in Friedberg stattfanden – und auf Anhieb ausverkauft waren. Da ist auch der Schlagermove, der als größtes Schlager-Event in Deutschland gilt. Rund eine halbe Million Menschen pilgern dafür jedes Jahr nach Hamburg. Bei der ersten Auflage 1997 war das so nicht absehbar, erinnert sich Organisator Frank Klingner. „Damals war der Schlager verpönt, die Leute haben uns für verrückt erklärt.“ Doch mit dem Angebot traf er einen Nerv. Das Interesse an Schlager-Partys stieg derart an, dass bald neue Angebote hermussten. Seit 2007 veranstaltet Klingner zusätzlich Boot- und Straßenbahnpartys in ganz Deutschland. Wie in Augsburg, wo seit 2013 die Schlager-Straßenbahn verkehrt. Anfangs nur ein Mal im Jahr. Mittlerweile gibt es aufgrund der Nachfrage drei Termine im Jahr.

    Durch Augsburg fährt die Schlager-Straßenbahn

    Heidrun Schwarz hat in einem Durchgang zwischen den Biertischen Platz zum Tanzen gefunden. Die dienen dem Partyvolk in Friedberg mehr als Steh- denn als Sitzunterlage. „Es gibt in der Region immer noch viel zu wenig Schlager-Events“, sagt die 39-Jährige im rosa-grünen Dirndl. Und warum gerade diese Musik? „Man versteht die Texte und kann gut mittanzen“, ruft Schwarz gegen die Klänge der Jungen Zillertaler an. Die animieren ihr Publikum, die Hände in Form eines Hubschrauberrotors kreisen zu lassen. Schwarz ist leidenschaftlich dabei, hüpft auf dem mit Hackschnitzeln ausgelegten Boden, die herzförmige Kette schwingt mit.

    Mal verpönt, mal geliebt: Die Geschichte des deutschen Schlagers

    Begriff: „Schlager“ bezeichnet ursprünglich ein gut verkäufliches Produkt, synonym zu „Kassenschlager“ oder „Verkaufsschlager“. In der Musik wurden zunächst lediglich Lieder so genannt, die tatsächlich einen großen Erfolg vorzuweisen hatten. Etwa ab den 1920ern bezeichnete der Begriff eine eigene Musikgattung, unabhängig vom Einspielergebnis.

    Definition: Wissenschaftlich gesehen existiert keine genaue Definition von Schlager. Allgemein gibt es jedoch einige Merkmale, die Schlagerlieder gemein sind. Sie haben eingängige Rhythmen und Texte, die man einfach mitklatschen und mitsingen kann, behandeln leichte Themen wie Liebe und Leidenschaft und sind in deutscher Sprache verfasst. Die musikalischen Übergänge zu Volksmusik, Pop, Jazz und Rock sind fließend.

    Anfänge: Der Begriff Schlager hat seine Ursprünge im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Damals tauchte die Bezeichnung im Zusammenhang mit erfolgreichen Operetten und Singspielen auf. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich daraus eine eigene Musikrichtung, die sich dank Stars wie Marlene Dietrich oder den Comedian Harmonists sowie den neuen Verbreitungsformen Radio und Schallplatte schnell etablierte.

    NS-Zeit: Der Aufschwung des Schlagers fand in der NS-Zeit ein Ende. Die Nazis schalteten das Genre gleich und nutzten es zur Verbreitung von Propaganda und Durchhalteparolen.

    Nachkriegszeit: Nach dem Ende des Kriegs war zunächst Musik gefragt, mit der sich der harte Alltag vergessen ließ. Der Schlager thematisierte seichte Themen wie Liebe und Heimat und bot so die Möglichkeit, sich in Tagträume zu stürzen. Mit dem Aufkommen von US-amerikanischer Musik feierte die rebellische Jugend lieber zu Beat und Rock ’n’ Roll. Der Schlager galt für viele nun als spießig und unzeitgemäß.

    Zeitgeist: Doch auch der Schlager passte sich ein wenig der rebellischen Stimmung der 1960er an. In den Liedern fanden sich zum Teil sozialkritische Themen. Beispiel: „Ich will nen Cowboy als Mann“ von Gitte Hænning, die sich für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen einsetzte. Auch das Wirtschaftswunder und die Gastarbeiterwelle wurden besungen.

    Fernsehen: Musiksendungen wie die ZDF-Hitparade rückten das Genre in den 1970ern wieder in den Fokus. Vor allem die linksintellektuelle Szene blieb dem Schlager gegenüber aufgrund seiner Rolle in der NS-Zeit jedoch misstrauisch.

    Rückkehr: In den 1980ern dominierte die Neue Deutsche Welle den Musikmarkt. Der Schlager verschwand weitestgehend von der Bildfläche. Eine Rückkehr feierte er dann in den 1990ern. Künstler wie Guildo Horn und Dieter Thomas Kuhn brachten den Schlager zurück – wenn auch zunächst unter dem Deckmantel der Ironie. (ands-)

    Beim Schlager geht es nicht nur um tief sitzende Emotionen, sondern auch um die große Party, um hemmungsloses Feiern. „Eigentlich ist das ja nicht so ganz meine Musik, zu viel Gedudel“, sagt Sabine, 26, aus Donauwörth, die an einem Stehtisch am Rand des Zeltes lehnt. Sechs Freunde begleiten sie, alle tragen Dirndl oder Lederhosen. Schlager und Tracht, das gehört irgendwie zusammen. Sabine ist vor allem hier, weil sie Spaß haben will. Jetzt muss sie weiterfeiern. Das „Fliegerlied“ verlangt vollen Körpereinsatz. Fliegen, Schwimmen, an der Hand nehmen.

    Der Schlager von heute, das sind seichte Texte, leicht mitsingbar. Es geht um Liebe, Leidenschaft, Träume. Eben das, was viele Menschen bewegt. Politische Statements haben keinen Platz. Die Schlagerwelt ist eine heile Welt. Die Interpreten wissen das, auch in Friedberg. „Habt ihr es geschafft, eure Sorgen vor der Türe zu lassen?“, fragt die Sängerin Michelle zwischen zwei Liedern, ohne eine echte Antwort aus der Masse zu erwarten. 

    Braucht die überlastete Gesellschaft von heute den Schlager als Ventil? „Das Bedürfnis der Alltagsflucht war schon immer vorhanden“, sagt Musikexperte Grabowsky. „Das ist kein Kennzeichen der heutigen Gesellschaft.“ Kritischer schaut er auf den Ballermann-Schlager, das, was auf vielen Partys mitgegrölt wird. „Dass er häufig zum übermäßigen Genuss alkoholischer Getränke aufruft, stellt der Gesellschaft kein gutes Zeugnis aus.“

    Das Frauenbild?

    Es gab Zeiten, da hatte das Genre mehr Profil. In den 60ern etwa war der Schlager Ausdruck des aktuellen Zeitgeistes. Inzwischen scheint es, als ob er wenig mit der Gesellschaft zu tun hätte. „Der heutige Schlager bedient häufig althergebrachte Muster“, stellt Grabowsky fest. Da ist etwa das schwache Bild der Frau, das in vielen Liedern vorkommt: Sie wartet sehnsüchtig auf ihren Mann, verzeiht ihm, wenn er fremdgegangen ist. „Diese Rollen entsprechen aber offenbar einem Bedürfnis, ansonsten wären die Lieder von heute nicht so erfolgreich.“

    In Friedberg stehen jetzt die Dorfrocker auf der Bühne. „Wir brauchen ein Mädel, das obenrum etwas zu bieten hat“, verkündet der Sänger. Eine junge Frau mit Blazer und schüchternem Lächeln traut sich. Sie darf im Takt von „Dingdong, klingeling“ mit ihren Brüsten wackeln, die währenddessen auf zwei Großbildleinwänden zu sehen sind. Das zum Teil angeheiterte Publikum hat großen Spaß, sie selbst offenbar auch.

    Draußen vor dem Zelt macht eine Gruppe von neun Frauen Pause. Es gibt Radler und Pizza. Stört sie das, dieses Frauenbild? „Da stehen wir drüber“, sagt eine von ihnen, die auf einer Anhängerkupplung sitzt. Die Mädels wollen nur Spaß haben. Und den Junggesellinnenabschied von Silke Hartmann aus Schwenningen (Kreis Dillingen) feiern. Die Braut ist ein „großer Schlagerfan“. Sie trägt ein rosa Tutu und eine Krone mit Schleier auf dem Kopf. Ihre Freundinnen stecken in pinkfarbenen T-Shirts, auf denen steht: „Atemlos durch die Nacht – Ihre letzte Nacht in Freiheit.“ Die wollen sie mit Antonia aus Tirol und den Jungen Zillertalern verbringen. 

    Die Mädels feiern bis zum Schluss. Der ist in Friedberg gegen Mitternacht. Vanessa Mai spielt ihre letzte Zugabe und verlässt die Bühne unter lautem Jubel. Auf dem Weg nach draußen ist ein junger Mann mit knielanger Lederhose und Dreitagebart begeistert. „Michelle und Vanessa Mai haben gerockt.“

    Schöne neue Schlagerwelt.

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