Die Stille in der Stadt wirkt lähmend. Durchbrochen wird sie nur durch den Klang der Artillerie in nicht allzu weiter Ferne. Im Sommer hatten noch vereinzelt Restaurants geöffnet. Jetzt sichern Sperrholz-Platten Scheiben vor den Druckwellen der Explosionen. Eingangstüren sind verriegelt. Die russischen Linien sind hier keine acht Kilometer entfernt. Mit jedem Vorrücken der Invasoren nimmt die Zerstörung in der Stadt zu: Gleitbomben, Drohnen, Artillerie-Granaten. Sie hinterlassen Zerstörung und Leid, noch bevor die russischen Soldaten da sind.
Dima steht mitten im Zentrum von Pokrowsk, einer Stadt mit etwa 53.000 Einwohnern in der Oblast Donezk im Osten der Ukraine. Er steht vor einem fünfstöckigen Gebäude, das zwei Treffer abbekommen hat. Einer ließ einen Teil des Hauses kollabieren. Von einem Glasanbau stehen nur noch verbogene Eisenträger. Die Zerstörungen lasten schwer auf Dima, einem 28-Jährigen. Er gehörte bereits zu den Verteidigern von Mariupol, seiner Heimatstadt. Nun verteidigt er Pokrowsk. Die Lage ist aus ukrainischer Sicht schlecht. Mit brachialer Gewalt kämpfen sich die russischen Truppen vor. „Es ist traurig, dass es wieder passiert. Es schmerzt“, sagt der junge Oberfeldwebel. Was er hier erlebt, erinnert ihn an den Kampf um Mariupol.
Erst verteidigte Dima Mariupol, dann kam er in Kriegsgefangenschaft
Große Teile von Mariupol ließen die russischen Streitkräfte bis Ende Mai 2022 im Schutt versinken. Danach wurden auf Geheiß des russischen Präsidenten Wladimir Putin russische Staatsbürger völkerrechtswidrig dort angesiedelt, wo einst die Menschen lebten, die vor den Invasoren flohen.
Mariupol. Der Name ist in der Ukraine mit dem Werk Asow-Stahl eng verbunden. In dem hatten sich die Verteidigerinnen und Verteidiger der Stadt verschanzt. Sie standen unter Dauerbeschuss. Es war der 20. Mai 2022, als die letzten von ihnen aufgeben mussten. Sie entkamen einer Hölle, um sogleich in der nächsten zu landen. So auch Dima. Er war kurz vor der voll umfassenden Invasion der Territorialverteidigung beigetreten.
Am 27. Februar 2022 ist er in Alarmbereitschaft, die Kämpfe um die Stadt laufen. Mit zunehmendem Druck der russischen Angreifer müssen sich die ukrainischen Truppen in den Kombinatskomplex von Asow-Stahl zurückziehen.
In den unterirdischen Kellern und Gängen bringen irgendwann nur noch Kerzen und LED-Lampen ein wenig Licht in eine tiefe Dunkelheit. Schwerverwundete werden unter Tage behandelt. Lebensmittel, Brennstoffe und Wasser werden knapp. Dima ist Ingenieur und hilft, Schmutz- zu Trinkwasser zu reinigen. Weiterhin ist er für Logistik zuständig. Mit Teams seiner Einheit durchstreift er die Ruinen der Umgebung auf der Suche nach Brauchbarem: Brennmaterial, Lebensmittel, Kraftstoff. „Nicht alle meiner Kameraden kehrten zurück. Ich meldete mich freiwillig zu Kampfeinsätzen“, sagt er im Rückblick. Doch damals braucht sein Kommandant den gut ausgebildeten Ingenieur unter Tage, sein Gesuch wird abgelehnt.
Den Verteidigern ist es unmöglich, der Übermacht der russischen Truppen standzuhalten. Die Einheit von Dima ergibt sich am 17. Mai 2022. „Da war einfach nur Angst vor dem Tod, als ich erfuhr: Wir geben auf“, erzählt er bei einem Treffen in Pokrowsk. Bis auf die Unterhose müssen sich die ukrainischen Verteidiger ausziehen, als sie in Gefangenschaft geraten. Der Abtransport in das Gefängnis Oleniwka folgt. Für Dima beginnt eine Zeit des Hungers, der Schläge und der Misshandlungen.
„Am Morgen gab es acht Löffel Brei, 50 Gramm Brot. Mittags meist eine dünne Kohlsuppe und eine Brotscheibe. Abends acht Löffel Porridge mit einem Hauch von Fisch.“ Dima lacht bitter. Im Juni 2022 kommt er in ein Gefangenenlager in der Region Wolgograd. Am 29. Juli 2022 wird sich im Gefängnis Oleniwka eine Explosion ereignen, bei der bis zu 62 Kriegsgefangene sterben. Die Inidizien sprechen für ein russisches Kriegsverbrechen. Dima hat Glück. Wenn man das so nennen kann.
In seinem neuen Gefängnis schläft er mit vier anderen in einer Einzelzelle. „Die Verpflegung war geringfügig besser, und wir bekamen Sträflingskleidung“, erinnert sich der 28-Jährige. Aber Schläge und Misshandlungen gehören zur Tagesordnung. „Besonders schlimm war es jeden Mittwoch, am Duschtag. 30 Minuten standen wir nackt da, und sie spritzten uns mit eiskaltem Wasser ab. Dabei traten sie uns, schlugen uns mit Gummiknüppeln.“ Die Gefangenen werden auch mit Elektroschockern gequält. Manchmal bis zur Besinnungslosigkeit.
„Dann haben sie ihre Wut an uns ausgelassen, bis sie sich völlig abreagiert hatten“
„Sie kamen immer wieder, mit Sturmmasken über ihren Köpfen, und schlugen zu“, sagt Dima. Wenn eine neue Schicht von Wächtern ihren Dienst im Gefängnis angetreten habe, habe die Brutalität zugenommen. „Dann haben sie ihre Wut an uns ausgelassen, bis sie sich völlig abreagiert hatten“, erzählt Dima. „Einmal hatten wir Tschetschenen als Wächter. Sie haben uns besser behandelt. ‚Ihr habt tapfer gekämpft‘, haben sie uns gesagt.“ Den russischen Offizieren sei das zu weit gegangen.
Ende Oktober 2022 kommt endlich der Tag der Freiheit. Dima wird abgeholt. Er weiß zu dem Zeitpunkt nicht, dass er bald im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen wird. Mit einem Militärflugzeug geht es auf die Krim. Dort verbringt er die Nacht vermutlich auf einem Militärflughafen. „Mir wurde klar, ich komme frei. Ein Wächter sagte es mir“, erinnert er sich. Ein Bus bringt sie dann nahe zum Übergabeort, die letzte Strecke läuft Dima mit vier anderen Kriegsgefangenen zu Fuß. „In Freiheit musste ich erst minutenlang weinen. Dann habe ich meine Frau angerufen“, sagt er leise. Als sie ihn wieder in ihre Arme schließen kann, wiegt er 59 Kilogramm. Es waren einmal 95.
Fünf Monate braucht Dima, um körperlich zu regenerieren. Die Misshandlungen mit den Elektroschockern haben seinem Herzen geschadet, die Nieren haben Schaden genommen, im Bauch wuchern Geschwüre und die Nerven in den Beinen sind entzündet. „Die Geschwüre kamen bestimmt, weil sie uns gezwungen haben, den Tee oder die Suppe viel zu heiß zu uns zu nehmen“, meint Dima.
Laut ukrainischem Verteidigungsministerium überlebten 177 Menschen die Misshandlungen in Kriegsgefangenschaft nicht
Er ist nun an einem kleinen Kiosk angelangt, einem der wenigen Plätze in Pokrowsk, an dem es noch Kaffee, Tee sowie Hotdogs und Hamburger aus der Mikrowelle gibt. Dima zieht sein Smartphone aus der Camouflage-Hose. Auf dem Bildschirm sieht man die abfotografierten Unterlagen, die die russischen Peiniger von ihm angelegt hatten. Zu sehen ist ein völlig abgemagerter, kahl geschorener Mann. Er blickt mit starrem Gesichtsausdruck in die Kamera.
Jetzt ist er also hier, in Pokrowsk, die russischen Linien sind keine acht Kilometer entfernt. Warum? „Ich müsste nicht mehr kämpfen“, sagt er. „Aber ich tue es dennoch. Weil Freunde und Kameraden von mir immer noch in Gefangenschaft sind.“
Die genaue Anzahl der ukrainischen Soldaten in Kriegsgefangenschaft ist schwer zu ermitteln. Russland beziffert sie auf 6500. Menschenrechtsorganisationen schätzen sie auf 10.000. Laut ukrainischem Verteidigungsministerium überlebten 177 Menschen die Misshandlungen in russischer Kriegsgefangenschaft nicht. Doch diese Zahl ist mehr als einen Monat alt. Und immer wieder tauchen in den sozialen Medien Filme von willkürlichen Erschießungen ukrainischer Kriegsgefangener auf.
„Russische Herrschaft bringt völlige Rechtlosigkeit. Da bleibt keine Alternative zum Kämpfen“, sagt Dima noch zum Abschied. Er weiß nur zu gut, dass die Freiheit einen hohen und schmerzvollen Preis haben kann.
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