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Religiosität: Spiritualität - was ist das eigentlich? Eine persönliche Spurensuche

„In jedem Baumarkt gibt es eine Buddha-Statue, aber Kirchen nehmen wir fast nicht als Anbieter von Spiritualität wahr“, sagt Johannes Hartl, der Gründer des Gebetshauses Augsburg.
Religiosität

Spiritualität - was ist das eigentlich? Eine persönliche Spurensuche

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    In einem Augsburger Gewerbegebiet, zwischen Autohaus und Autolackiererei, wird seit bald zehn Jahren fortwährend gebetet, 24/7, rund um die Uhr. In einer Mischung aus Meditationskreis und Musikevent. Halleluja und preiset Ihn! Vor dem Gebetshaus Augsburg parken Autos mit Kennzeichen aus Deutschland und Österreich. Jena, Karlsruhe, Wien. Von weither kommen Menschen, um hier zu finden, was sie zum Beispiel in einem katholischen Gotteshaus nicht zu finden meinen. Das

    Zahlreiche Menschen sind auf der Suche, nach spirituellen Erfahrungen und Sinn. Sie wollen offenbar glauben. Die katholische oder evangelische Kirche benötigen sie dazu aber nicht (mehr). Ich begebe mich auch auf die Suche – nach Antworten auf die Frage, was spirituelle Angebote erfolgreich macht und was das eigentlich ist: Spiritualität.

    Das Augsburger Gebetshaus erreicht mit seinem Online-Angebot 1,5 Millionen Menschen

    Der katholische Theologe, Philosoph und Gebetshausgründer Johannes Hartl geht sehr differenziert mit dem Wort „Erfolg“ um und will ihn nicht nur in Zahlen bemessen wissen. Die jedoch sind eindrucksvoll: Das Gebetshaus, das zur Strömung „Charismatische Erneuerung in der Katholischen Kirche“ zählt, hat nach eigenen Angaben etwa 50 Vollzeit-Mitarbeiter. Zu der von ihm veranstalteten ökumenischen Konferenz „Mehr“ kamen zuletzt um die 12.000 Besucherinnen und Besucher in die Messe Augsburg. Im Internet erreicht das Gebetshaus 1,5 Millionen Menschen. Etwa 2000 Spenderinnen und Spender unterstützen projektgebunden einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

    Der katholische Theologe, Philosoph und Gebetshausgründer Johannes Hartl.
    Der katholische Theologe, Philosoph und Gebetshausgründer Johannes Hartl. Foto: Andi Ziller

    Hartl selbst, der bei unserem Gespräch ein Hemd mit floralen Motiven trägt, ist ein international gebuchter Vortragsredner und Autor. „Wir erleben ausgeblutete, übergroße Pfarrgemeinden, in denen ein intensives Glaubensleben nicht möglich ist. In dieser Situation brauchen wir Kraftorte, ob das nun das Gebetshaus oder ein Kloster ist“, sagt er. „In jedem Baumarkt gibt es eine Buddha-Statue, aber Kirchen nehmen wir fast nicht als Anbieter von Spiritualität wahr.“ Wenn Spiritualität vorkomme, dann sei es eine tendenziell fernöstliche. Ihn bringe das zum Staunen.

    Mich auch. Denn spirituelle Angebote treiben ungezählte Blüten, die katholische Kirche scheint zu verblühen.

    Ergebnisse des „MDG-Trendmonitor“, für den im vergangenen Sommer 1690 Katholikinnen und Katholiken ab 14 Jahren repräsentativ befragt wurden, waren: Glauben Sie an Gott? 74 Prozent antworteten mit Ja. Haben Sie schon einmal an Kirchenaustritt gedacht? 39 Prozent antworteten mit Ja. Haben Sie den Eindruck, die Kirche halte teilweise zu starr an überholten Normen fest? 70 Prozent antworteten mit Ja. Zugleich sei der Anteil an Menschen, die sich als „religiös“ beschreiben über die vergangenen rund 25 Jahre „bemerkenswert stabil“ geblieben.

    „Was suchst du hier?“, frage ich Beke im Gebetshaus, wir duzen uns gleich. „Was hast du hier gefunden?“

    Ich bete zuhause oder in der Kirche. Viele andere treten aus

    Wenn ich versuche, mit Gott in Verbindung zu treten, bete ich nicht im Gebets-, sondern in meinem Haus. Oder in katholischen Gotteshäusern – in denen es zunehmend leerer wird. Die Zahl der Gottesdienstteilnehmer ist im Pandemie- und Kirchenstatistikjahr 2020 auf bundesweit 5,9 Prozent (2019: 9,1) gesunken. Im Bistum Augsburg waren es 8,3 Prozent (2019: 11,8). Werden jene, die fernblieben, in die Gotteshäuser zurückkehren?

    Im Erdgeschoss des Gebetshauses ist ein Café mit einer langen Holztisch-Tafel. Nebenan Gästezimmer. Und im Obergeschoss der Gebetsraum: das spirituelle Zentrum des Gebetshauses, in dem das Gebet nie und die Musik selten verstummt.

    Ich nehme, die Pandemie-Situation erlaubt es an diesem Tag, auf einem Stuhl hinten links Platz. Acht Menschen sind da. Eine Frau mit rot gefärbten Haaren läuft vor der Bühne mit dem von der Decke hängenden Kreuz hin und her. Eine ältere Frau in Blümchen-Bluse sitzt zwei Reihen vor mir, tief nach vorn gebeugt; neben mir eine weitere junge Frau, im Kapuzenpulli. Sie hat sich auf den Teppichboden gesetzt, Rücken an die Wand, Knie am Oberkörper. Es ist warm, ihre Wollmütze behält sie trotzdem an. Später kommt ein Vier- oder Fünfjähriger herein, auf dem Kopf ein Fahrradhelm. Gebetshaus-Alltag.

    „Was suchst du hier, Beke?“ – „Ein Fundament für meinen Glauben, das nicht bricht.“

    „Und was hast du hier gefunden?“ – „Gelassenheit. Vor zehn Jahren zum Beispiel habe ich noch nach Anerkennung gesucht. Mir war wichtig, gut anzukommen. Das muss ich jetzt nicht mehr, denn ER erfüllt mich. Hab ich damit deine Fragen beantwortet? I don’t know.“

    Beke Riecken – „Missionarin in der Abendschicht“ im Gebetshaus Augsburg.
    Beke Riecken – „Missionarin in der Abendschicht“ im Gebetshaus Augsburg. Foto: Pepe Lange

    Beke Riecken wurde auf das Gebetshaus durch dessen Homepage aufmerksam. Die sei „die coolste“. Sie sagt, sie komme aus dem freikirchlichen Bereich, „Pfingstler“. Mit Spiritualität verbinde sie Freiheit, mit Religiosität Regeln. Katholische Gotteshäuser beschreibt sie als magische Räume, die Liturgie als überfordernd. Aufstehen, knien, setzen – das habe sie bei ihrem ersten Besuch befremdet. Im Gebetsraum könne sich jeder verhalten, wie er wolle. Nur leise solle man sein, und nicht schlafen. Die katholische Kirche? Sie und das Gebetshaus hätten den gleichen „spirit“.

    Der katholische Augsburger Bischof Bertram Meier erzählt mir von einem spirituellen Erlebnis, das er einst in Rom hatte

    Mancher Amts- und Würdenträger der katholischen Kirche sieht im Gebetshaus Augsburg die Zukunft der Kirche: eine Gemeinschaft ernsthaft Suchender, die ihren Glauben immer wieder neu entdeckt – im intensiven Gebet und mit spürbarer Freude. Das Gebetshaus wirkt auf nicht wenige attraktiv. Im Gegensatz zur „Amtskirche“ mit ihren Skandalen, ihren verfestigten Strukturen, ihren Zerwürfnissen und ihrer oft formelhaften Sprache.

    Kirchenverantwortliche haben das erkannt. Und es mangelt durchaus nicht an eigenen Ideen. Das Gebetshaus und andere Angebote werden zwar kritisch begleitet: Wird etwas verkündet, das im Gegensatz zur Kirchenlehre steht? Aber: Sie gelten als Impulsgeber.

    Die Analyse des Augsburger Bischofs Bertram Meier, der mir ausführlich auf meine Fragen zum Thema Spiritualität antwortet, dürften einige Bischöfe teilen: Gerade die Corona-Pandemie habe die Sehnsucht nach geistlichen Angeboten noch einmal intensiviert. „Die Menschen brauchen mehr als das körperliche Wohl, es geht auch um den inneren Frieden und das Seelenheil.“ Nach der Entspannung der Krise werde sich zeigen, „ob uns ein spiritueller Start-up gelingt“ – „an diesem spirituellen Anspruch werden wir uns messen lassen müssen. Daran steht und fällt auch künftig die Bedeutung der Kirchen“.

    Zur Wahrheit gehört: Spirituelle Angebote, vor allem außerhalb der beiden großen christlichen Kirchen, haben es leichter – weil sie in der Regel klar umgrenzte Angebote auf dem Markt der Sinnstiftung und Orientierung sind. Niedrigschwellig, ohne (zu) viel Überbau. In einer komplexen Welt reduzieren sie Komplexität.

    Die katholische Kirche, wie sie sich in Studien und Statistiken, bei Bischofsversammlungen oder dem Reformprozess Synodaler Weg präsentiert, fördert dagegen Komplexität und überfordert. Dort allerdings, wo sie konkret auf den einzelnen Menschen eingeht und ihn begleitet, ist ihr Angebot in vielen Fällen erfolgreich. Im Sinne von beliebt und nachgefragt. Immer wieder gelingt ihr ein „spiritueller Start-up“. Man sieht das, im Großen, auf Weltjugendtagen oder, im Kleinen, am Beispiel Othmar Franthals, dem langjährigen Leiter des Meditationshauses St. Franziskus in Dietfurt an der Altmühl, Bistum Eichstätt.

    Das Problem speziell der katholischen Kirche: All das zahlt, wie Manager es sagen würden und wie es sich fortwährend beobachten lässt, nicht auf ihre Marke ein. Jede Enttäuschung, jedes als „unsäglich“ empfundene Wort eines ihrer Vertreter, jeder Skandal zementieren ein negatives Bild dieser Institution.

    In Dietfurt gibt es das älteste christliche Zen-Kloster im deutschsprachigen Raum. Die Nachfrage nach Angeboten seines Meditationshauses ist groß

    Zurück zu Dietfurt. Die Einrichtung der Deutschen Franziskanerprovinz könne als das älteste christliche Zen-Kloster im deutschsprachigen Raum betrachtet werden, lese ich auf deren Internetseite. Die Lokalpresse schreibt, das Mediationshaus sei seit mehr als 40 Jahren ein Erfolgsmodell. Anfangs seien im Glauben Suchende, Aussteiger oder Alt-Hippies angereist – heute viele, die „in hohen gesellschaftlichen Positionen stehen und für sich eine Auszeit und innere Einkehr suchen“. Die Nachfrage sei weitaus höher als das Angebot.

    Franthal, der seit 1998 Zen-Lehrer ist und Anfang August in den Ruhestand ging, hört sich meine Fragen am Telefon an. Dann lacht er herzlich. Was Spiritualität sei, könne er auch nicht genau sagen. Er schickt mir schließlich eine Mail. Unter Spiritualität verstehe er, der „eigenen Natur auf der Spur zu sein beziehungsweise die Klärung der Frage: Was ist der Mensch, das DA SEIN an sich?“

    Ich frage weiter. Benediktinerpater Anselm Grün von der Abtei Münsterschwarzach im Bistum Würzburg antwortet mir: Spiritualität habe für viele Menschen nicht mehr den moralisierenden Ton, den sie früher mit der Religion verbunden hätten. „Spiritualität heißt – wie der Name schon sagt – Leben aus dem Geist.“ Bischof Meier ergänzt: Geist meine „Selbstüberschreitung des Menschen“, und dass Spiritualität dennoch nichts Vergeistigtes sei. „Spirituelle Menschen handeln sehr konkret. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, erdet die Spiritualität, wenn er sagt: Gott in allen Dingen suchen und finden. Ein spiritueller Mensch ist also kein Hans-Guck-in-die-Luft.“

    Der Bischof des katholischen Bistums Augsburg, Bertram Meier.
    Der Bischof des katholischen Bistums Augsburg, Bertram Meier. Foto: Berthold Veh (Archivbild)

    Aber was ist Spiritualität, was Religiosität? Der Münsteraner Religionssoziologie-Professor Detlef Pollack erklärt, Religiosität stehe mehr für einen kirchennahen und traditionellen, Spiritualität mehr für einen individuell verantworteten, kirchendistanzierten Religiositätstyp. Eindeutig gegeneinander abzugrenzen sei beides nicht. Spiritualität jedenfalls sei „die Suche nach einer hinter der alltäglichen Welt liegenden höheren (oder tieferen) Realität“, von der der Suchende annehme, dass sie den Kern der Wirklichkeit ausmache. Spirituelle Praktiken seien „der Versuch, Zugang zu dieser tieferen oder höheren universellen Realität zu erlangen“.

    Was mir Benediktinerpater Anselm Grün von der Abtei Münsterschwarzach rät

    Bischof Meier erzählt mir von einer Erfahrung, die an die 35 Jahre zurückliegt. Er saß damals in Rom an seiner Doktorarbeit und steckte in einer Krise, weil er nicht weiterkam. Da riet ihm eine Ordensschwester, auf die Kuppel des Petersdoms zu steigen. „Erst dachte ich: Was soll denn das? Doch ich stieg hinauf – hunderte von Stufen. Dann blickte ich auf die Stadt, ein riesiges Panorama tat sich auf und das Domizil, in dem ich lebte, wirkte plötzlich ganz klein. Das war für mich ein spirituelles Erlebnis.“ Er machte sich wieder an seine Doktorarbeit über das Kirchenverständnis des Regensburger Bischofs Sailer. „Aber es war anders“, erzählt er. „Die Schwere der Arbeit wurde abgelöst von der Leichtigkeit, sich nicht zu wichtig zu nehmen.“

    Benediktinerpater Anselm Grün von der Abtei Münsterschwarzach.
    Benediktinerpater Anselm Grün von der Abtei Münsterschwarzach. Foto: Inga Kjer, dpa (Archivbild)

    Als ich ins Gebetshaus Augsburg gehe, bin ich auf der Suche nach dem Erfolgsrezept spiritueller Angebote. Zugegeben: Ein wenig erwarte ich mir ein spirituelles Erlebnis. Aber das kommt nicht mal eben so, auch das weiß ich von Meier, der sagt, Spiritualität könne man nicht lernen wie Vokabeln. Was ich finde? Einen Moment der Ruhe in schwierigen, polarisierten Zeiten. Wie in der Kirche in meiner Nähe, ein paar Tage danach. Was ich noch finde während meiner Recherche? Eine Anleitung zum Ruhigwerden. Pater Anselm Grün schickte sie mir:

    „Setzen Sie sich still hin und schließen die Augen. Gehen Sie durch alle Gedanken und Gefühle hindurch, die in Ihnen auftauchen. Stellen Sie sich vor, dass unterhalb des Gefühlschaos ein Raum der Stille ist, zu dem der Lärm der Welt keinen Zutritt hat. Dort berühren Sie das Geheimnis. Dort sind Sie frei von den Erwartungen der Menschen. Und dort sind Sie heil und ganz, mit sich im Einklang. Dort sind Sie Sie selbst. Alle Rollen und Masken lösen sich auf. Und dort, wo Sie ganz Sie selbst sind, sind Sie eins mit allem, was ist, mit Gott, mit der Natur und mit den Menschen.“

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