"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich", heißt es in Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes. Jeder darf seinen Glauben ausüben, der Staat schützt dieses Recht. Wie wenig selbstverständlich das ist, zeigt ein Blick nach Nigeria. Das Ausmaß der Gewalt gegen Christen nimmt dort seit Jahren zu. In einer Liste, die die Organisation "Open Doors" jährlich erstellt, rangiert das Land auf Platz 7 in Sachen Christenverfolgung. Seit 2015 führt es die Statistik im Bereich der Gewalt gegen Christen an. Im Jahr 2020 wurden 3.163 nigerianische Christen wegen ihres Glaubens getötet, im Jahr 2021 waren es laut "Open Doors" 4.303. Ausgeführt wird die Gewalt meist von islamistischen Organisationen wie Boko Haram oder dem IS.
Beides sind terroristische Netzwerke, die seit Jahren mit brutaler Gewalt durch das Land ziehen. "Wir können nicht frei Gottesdienst halten", sagt Bischof Wilfred Chipka Anagbe. Er kommt aus Nigeria, ist Bischof der Diözese Makurdi. In diesen Tagen besucht er Deutschland, spricht bei der "Kirche in Not" über die Lage in seinem Heimatland, um die Menschen auf ein Thema aufmerksam zu machen, das vielen nicht bewusst ist.
Und die Lage ist ernst. Manchmal, so erzählt er, brauche es auch abseits der Gottesdienste Sicherheitskräfte, damit niemand mit einer Bombe oder anderen Waffen zu Veranstaltungen kommt. Eine lebendige Kirchengemeinschaft existiere zwar weiterhin, aber nicht so, wie sie einmal war. Es habe früher Treffen gegeben, zum Beispiel mit Jugendlichen oder dem Chor. Nun versuche man, das minimal Mögliche zu machen - damit die Menschen ihren Glauben behalten. In Nigeria leben zu jeweils etwa 50 Prozent Christen oder Muslime, einen kleinen Rest bilden andere Gruppen.
"Die Kirche ist die einzige Stimme der Stimmlosen", sagt Anagbe. Sie gebe denen eine Stimme, die vor den im Land herrschenden Terrororganisationen geflüchtet seien, die gar nichts haben und nicht heimkehren können. "Ihre Zuhause sind zerstört, die Schulen in den Dörfern sind zerstört, Kirchen wurden bombardiert und so ist es schwierig und so sehe ich es jeden Tag."
Trotz Schwierigkeiten versucht die Kirche in Nigeria, Geflüchteten zu helfen
Allein in seinem Zuständigkeitsbereich zähle man 1,7 Millionen Vertriebene. Die meisten seien Frauen und Kinder, weil die Männer getötet wurden. In ganz Nigeria lebten 2021 etwa 211 Millionen Menschen. Das Land ist stark von Krisen geschüttelt, neben dem Terror gibt es ethnisch geprägte Konflikte zwischen Bauern und wandernden Hirten. Es gibt außerdem laut Bundeszentrale für politische Bildung verstärkt Verteilungskämpfe zwischen den über 400 Ethnien und Glaubensgemeinschaften.
Die Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, ihre eigenen Häuser wieder zu beziehen und beginnen zu leben, fordert Anagbe. Die Regierung spreche immer darüber zu helfen, doch tatsächlich passiere wenig - schon 2018 sei zugesagt worden, man gebe 10 Millionen Euro, um die Menschen zu rehabilitieren. Jetzt - vier Jahre später - sei immer noch nichts passiert. Laut dem Bischof ist die Gewalt im Land allgegenwärtig. Frauen und Mädchen würden vergewaltigt, aber niemand spreche darüber. Also versuche die Kirche, eine Art Trauma-Zentrum einzurichten, in dem die Menschen das Erlebte verarbeiten und ein normales Leben anfangen können.
Organisierte Kriminalität ist eines der weiteren Probleme des Landes, hinzu kommt die Piraterie, die sich im Nigerdelta mit seinen großen Öl- und Gasvorkommen etablieren konnte. Angabe erlebt, was die Auswirkungen sind: Am ersten Januar 2018 wurden über 80 Menschen in einem Dorf getötet, es sei von Terroristen umzingelt worden. "Vor dieser Krise war das Leben normal, das soziale Leben war gut", sagt Anagbe. Die Menschen waren wirtschaftlich aktiv, konnten reisen, ohne Angst zu haben. Jetzt seien ihre Geschäfte zerstört, das Sozialleben kaputt, religiöse Aktivitäten nicht mehr möglich. Schulen seien nicht mehr geöffnet. In Angst vor den Terroristen würden diese schon geschlossen, wenn es nur Gerüchte gibt, dass Boko Haram kommt. Die Gefahr wachse jeden Tag und verbreitet sich über das ganze Land. 2018 wurden zwei seiner Priester während einer Messe ermordet, berichtet Anagbe. Am 5. Juni dieses Jahr wurden mehr als 50 Menschen in einer Kirche im westlichen Teil Nigerias getötet. Die Gewalt sei überall und geschehe jeden Tag.
Die nigerianische Regierung muss handeln, um IS und Boko Haram ein Ende zu setzen
Er mache für die Situation die Regierung verantwortlich, sagt der Bischof. Die Regierung müsse die Menschen im Land und ihr Eigentum beschützen. "Also können sie mir nicht sagen, sie wüssten nicht was zu tun ist!" 2023 sind Wahlen in Nigeria, es wird einen neuen Präsidenten geben. Das aktuelle Staatsoberhaupt Muhammadu Buhari war mit einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent 2019 wiedergewählt worden. Buhari war 2015 der erste demokratisch gewählte Präsident. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung merkt an, dass sich die Sicherheitslage in Nigeria seit 2019 stetig verschlechtert habe.
Er habe schon Hoffnung, sagt Anagbe. "Hoffentlich wird der nächste Präsident jemand mit einem menschlichen Gesicht sein." Der Bischof wünscht sich, dass dieser Präsident die Wünsche der Nigerianerinnen und Nigerianer erkenne. Allerdings ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung angeschlagen, weil viele Versprechen, die den Menschen gegeben wurden, nicht eingehalten wurden. "Die Unsicherheiten werden jeden Tag schlimmer."