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Reise: Fahrziel Deutschland: Erfahrungen eines Trampers

Reise

Fahrziel Deutschland: Erfahrungen eines Trampers

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    Geduld ist eine Grundtugend der Tramper - zwangsweise. Autor Bastian Sünkel wartet auf die nächste Fahrtmöglichkeit.
    Geduld ist eine Grundtugend der Tramper - zwangsweise. Autor Bastian Sünkel wartet auf die nächste Fahrtmöglichkeit. Foto: Ulrich Wagner

    Es war der richtige Zeitpunkt, um aufzugeben. Ich stand kurz vor der Autobahnauffahrt Bayreuth-Nord an der einzigen Tankstelle, die stadteinwärts liegt. Mein Pappschild mit dem großen „L“ für Leipzig kauerte geschunden neben mir am Boden. Hitze und Gepäck drückten auf mein Gemüt, und ich fing an, meine Umgebung zu hassen. Die Menschen an den Zapfsäulen hatten es einfacher. Einsteigen, wegfahren. Aber ich wollte es ja nicht anders.

    Einmal quer durch Deutschland in zweieinhalb Wochen

    Ich wollte einmal quer durch Deutschland trampen, von Augsburg über Berlin nach Fehmarn und Richtung Süden bis in die Schweiz nach Luzern. Und das in zweieinhalb Wochen. So, wie es sich für Anhalter gehört: Daumen und Schild auf Brusthöhe. In der nackten Hoffnung, dass jemand mich für ein schnelles Gespräch auf Nimmerwiedersehen ein paar Kilometer mitnahm.

    Doch in diesem Moment dachte ich ans Aufgeben – und an Urlaub in Bayreuth. Dann stand er wie aus dem Nichts vor mir. Er hob zur Begrüßung den Arm, als ich noch verwirrt auf seine regenbogenfarbene Leinenmütze starrte. „Und ich dachte, ihr wärt alle ausgestorben.“ Verwirrt blickte ich ihn an. „Du siehst aus wie ein echter Tramper! Fünf auf die Hand!“ Ich schlug ein.

    „Jawoll, Junge!“ In dem Moment zückte er seine Kamera: „Erzähl! Was willst du erleben?“ Das wisse man doch nie, sagte ich. Ihm gefiel meine Antwort und mir erinnerte mich, dass ich genau aus diesem Grund vor zwei Tagen in Augsburg gestartet bin.

    Selbstüberwindung vermischt sich mit Freiheitssentimentalität

    Vor 52 Stunden, wenn man es genau nimmt, begann die Tour. Die Taschen waren gepackt und ich stieg am Königsplatz mittags in die Tram, um möglichst nahe an die nördliche Autobahnauffahrt zu kommen. Die ersten Zeilen schrieb ich bereits nach dem Einsteigen ins Tagebuch: „Meine linke Hand zittert. Es riecht nach leberkäsverschmierten Kinderhänden in der Sonne.“

    Es ist immer das Gleiche, wenn man beschließt, per Anhalter von A nach B zu fahren. Die Selbstüberwindung vermischt sich mit Freiheitssentimentalitäten. Und was dabei herauskommt, ist eine zitternde linke Hand.

    „Das Verdeck habe ich leider bei Nürnberg verloren“

    Dass die Reise anstrengend werden kann, davon geht man aus. Dennoch sehnt sich der Tramper im Vergleich zum Bergsteiger nach einer bequemen Tour. Daumen raus, Auto hält, Kopf gen Fahrtwind. Bis Dietfurt bei Treuchtlingen ging der Plan auch auf.

    Benny, ein Augsburger Student, nahm mich über die Landstraße mit, bis er rechts zu seinen Eltern abbog. Wir unterhielten uns über Energieeffizienz und Asyl und verabschiedeten uns herzlich. Mit dem Handwerker, der in Dietfurt direkt vor meinem Daumen stoppte, lief das anders. Ich fragte: „Nach Nürnberg?“ Er verstand: „Richtung

    Einfach Daumen raushalten ging an dieser Stelle nicht. Auf der schmal geschnittenen Straße war Tempo 100 erlaubt und die ersten Autos hupten aggressiv, als ich mich vorsichtig näherte. Etwa sieben Kilometer später stehe ich schweißüberströmt mit meinem Schild in Weißenburg. Die Autos tröpfeln in gefühlten Minutenabständen vorbei.

    Bis Faruk hält. Das sind die emotionalen Momente der Reise. Mein Tagebuch sagt: „Der Retter kam aus dem Kosovo mit Dualstudium im silbernen BMW.“ Die Ausfahrt Nürnberg-Poppenhausen lag irgendwann vor uns und eine Nacht bei Freunden zwischen mir und Bayreuth.

    In einer Stunde kann es losgehen

    Doch in Bayreuth stand ich nun und starrte abwechselnd auf Stephans Regenbogenmütze und die Kamera in seiner rechten Hand. Ich wusste nichts von ihm, außer seinen Namen. Aber ich hatte Zeit. Und er war redselig. Sein Auto stehe bei der Werkstatt auf der anderen Straßenseite und lade, verrät er mir. Es lädt? „Ja, ein Elektroauto.“ Er habe am größten

     Jetzt habe er in Bayreuth nach einer passenden Steckdose gesucht. Das macht er immer so, wenn die Akku-Anzeige 20 Prozent anzeigt, erklärt er später. Schließlich bietet sich die Gelegenheit für die entscheidende Frage: Nimmt er mich mit? „Natürlich, dauert aber noch. Der Akku ist bei 40 Prozent.“ Das heißt, umgerechnet in Elektro-Lade-Zeiteinheiten: In einer Stunde kann’s losgehen.

    Stephan war niemand, der an einer Sternfahrt teilnahm, um sein Gefährt zu präsentieren. Stephan war einer, der davon überzeugt ist, seine Anwesenheit werde die Welt verändern, ja verbessern. Keine Weltfriedensfantasien und keine Verschwörungstheorien. Rein der Wunsch, alle Ressourcenfresser von den Straßen zu verbannen. „Du musst dir doch nur mal vorstellen, dass dein Auto lädt, während dir der Friseur die Haare schneidet.“ Er klopft mir auf die Schulter. Er wollte etwas verändern, sagt Stephan. Und ich auch: weg aus Bayreuth.

    Fahrer halten aus Langeweile oder Nächstenliebe

    Während Stephan mit den Mechanikern redete, hatte ich Zeit, mir über meine Fahrer Gedanken zu machen, die mir bislang und auf anderen Touren begegneten. Zu einem klaren Ergebnis führen diese Gedanken nie: Sie fahren VW, Subaru, Porsche und Elektroauto. Sie reden über Energieeffizienz und ihren Haarwuchs. Sie sind alt und jung, öfter männlich, aber auch weiblich, zu zweit oder allein unterwegs. Sie halten aus Langeweile, Nächstenliebe, Mitleid oder in der Hoffnung, dass am Straßenrand ein guter Eheberater steht.

    Sie sprechen frei und reflektieren, weil die Wahrscheinlichkeit, sich wieder zu sehen, gegen null geht. Zwischen Hermsdorfer Kreuz und Kassel – zwei Jahre zuvor – ernennen Vater und Sohn im Transporter ihres Familienunternehmens den Tramper zum Richter über den eskalierenden Erbschaftsstreit in der Verwandtschaft.

    Eine Niederländerin im weißen Golf fragt zwischen Hamburg und Bremen, ob ihr deutscher Mann zu ihr oder sie zu ihm ziehen soll. Und der Handwerker bei Dietfurt kommentiert meinen Plan mit: „Ich wäre auch gern durch Deutschland gereist. Hab’ Familie. Mist.“ Geschichten, so ehrlich wie ein Stoppschild.

    "Das Verdeck habe ich in Nürnberg verloren"

    Anders die Menschen, die eine Entschuldigung suchen, warum sie trotz freier Plätze den Anhalter stehen lassen: Sie alle müssen an der nächsten Ausfahrt raus. Stephan war keiner, der nach Ausreden suchte. Ich war mir sicher, er würde sogar Umwege in Kauf nehmen.

    Der Akku war voll. Ich saß neben ihm im metallicblauen Elektroauto, das mit Tempo 80 die A9 Richtung Hof hochschlich. Mein Gepäck auf den Beinen, Stauraum gab es nicht. Es begann zu nieseln. „Das Verdeck habe ich bei Nürnberg verloren“, meinte er. Aber wir seien ja den Regen gewöhnt. Er als alter, ich als junger Tramper. Stephan erzählte, er sei damals durch halb Europa getrampt. Wahrscheinlich war schon damals mit seiner Regenbogenkappe unterwegs, wie ich mit dem Weltraumschimpansen aus Plüsch, den ich vor Jahren aus einem Armautomaten befreit habe. Wegbegleiter und Glücksbringer.

    Wir näherten uns der Raststätte Frankenwaldhöhe. Stephan sprach noch immer über seine alten Tricks beim Trampen. „63 Prozent deiner Geschichte müssen stimmen, wenn du Fahrer ansprichst. Hauptsache du kommst ein Stück weiter.“ 63 Prozent? Genau der Wert, den die Akkuanzeige einblendet. Er fährt an den Zapfsäulen der Raststätte vorbei. „Ich besorg dir einen Fahrer, lass mal machen!“, sagte er und verschwand Richtung Parkplatz, während ich an der Tankstelle Wasser kaufte.

    Vom Porschefahrer bis zum Pololenker

    Es waren nicht mehr als Wortfetzen, die ich Stephan sagen hörte, als wir uns am Parkplatz treffen. Fünf potenzielle Fahrer standen um ihn herum und er dichtete mir eine Freundin an, die ich dringend in Leipzig besuchen müsste.

    Keine Verabschiedungslänge später saß ich bei zwei Betonbauern auf dem Rücksitz, die an diesem Tag ihre Gesellenprüfung bestanden hatten. Die Reise ging also weiter. Von der Berliner Nacht in Kreuzberg, den Hühnergöttern auf Fehmarn und den lebensfreudigen Körnerstraßen-Kölnern konnte ich Stephan nichts mehr erzählen. Auch nicht vom Porschefahrer, der bei Tempo 240 die Menschheit für ihren Rohölverbrauch verurteilte.

    Oder dem Systemkritiker im roten Polo, der dem Porschefahrer Tempo 240 gönnt, wenn er dafür sein Geld für den Kampf gegen das Plastik in den Weltmeeren einsetzt. Wie alle anderen habe ich Stephan nicht mehr gesehen. Außer in der Erinnerung, als er und seine Regenbogenkappe auf dem Parkplatz im Rückspiegel verschwinden. Kurz danach schrieb ich in das Tagebuch: „Wir treiben wie Schiffbrüchige durch die Straßen.“

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