Es ist 13.58 Uhr, als am Montag im Hochsicherheits-Sitzungssaal der JVA in Stuttgart-Stammheim mit einem lauten Knall alle Lichter und Mikrofone ausgehen und Sicherungsmechanismen hörbar einrasten. Großflächiger Stromausfall, rote Warnlichter und Warnsignale gehen im Gebäude an, bevor die Notstromversorgung hochfährt und den Saal, durch dessen Deckenlichter nur diffuses Tageslicht fällt, wieder matt beleuchtet. Ein Raunen geht durch den Verhandlungssaal. Ein Blackout, jetzt gerade, wirklich?
Denn just in diesem Moment berichtet Ralf S., 58, einer von neun Angeklagten im Stuttgarter Ableger des „Reichsbürger“-Prozesses, um sein Abdriften in die Verschwörungstheorien und in die „Reichsbürger“-Szene in den Corona-Jahren. Und von seiner wachsenden Überzeugung, an einem „Tag X“ würde es nach der gewaltsamen Entmachtung der Bundesregierung, Umsturz und Machtübernahme durch eine geheime „Allianz“ in Deutschland durch Abschaltung der Atomkraftwerke einen großflächigen, mehrtägigen Blackout geben.
Prozesse finden an drei verschiedenen Orten statt
Die Gruppe um Prinz Reuß soll laut Anklage einen gewaltsamen Umsturz der Bundesregierung geplant und dabei bewusst Tote in Kauf genommen haben. Die Männer stehen an drei verschiedenen Orten vor Gericht: München, Frankfurt am Main und Stuttgart. Ralf S., gelernter Dachdeckermeister aus dem baden-württembergischen Städtchen Horb, dort in den Corona-Jahren zunehmend als Gegner der staatlichen Maßnahmen und Protest-Organisator in Erscheinung getreten, wäre laut Anklage mit dem Aufbau der „Heimatschutzkompagnie 221“ betraut gewesen. Solche jeweils 150 Personen umfassenden „Kompagnien“ sollten vor Ort in den einzelnen Regionen jeweils während des Umsturzes und des Blackouts für Sicherheit und Ordnung sorgen und die Bevölkerung versorgen.
Die Aussage von Ralf S. zur Sache soll Aufklärung bringen: Wie fand der freundlich und bodenständig wirkende Handwerker den Weg in die Verschwörertruppe? Was war seine Rolle? An was und wem glaubte er? Schnell wird deutlich: Ralf S. ist zumindest aus seiner Sicht in den Jahren in alles einfach „reingerutscht“, hat den falschen Leuten und Erzählungen geglaubt, nicht weiter nachgedacht, Bedenken ausgeblendet. „Ich war nicht mehr ich selbst zu dem Zeitpunkt“, sagt er über seine ersten Kontakte mit dem Mitangeklagten und Ex-KSK-Soldaten Marco v. H., einem Bekannten aus der „Querdenker“-Szene.
Persönliche Probleme treiben Ralf S. um
Persönlich sei er schwer belastet gewesen in dieser Zeit, durch zweite Scheidung, Schulden, seinen Betrieb. Über Chatgruppen und Treffen mit Selbstversorgergruppen kam er über Marco v. H. mit der Legende von der „Allianz“ und dem „Tag X“ des Umsturzes in Berührunng. „Ich habe in der Zeit nur funktioniert, jeden Strohhalm ergriffen, der sich geboten hat. Und dann habe ich gehört, dass Deutschland kein souveräner Staat ist, sondern wir von einem Deep State regiert werden, einer Organisation, die mit allen Mitteln versucht, die Macht an sich zu reißen, mit finanziellem Einfluss“, sagt Ralf S. aus. „Meine Vorstellung war, dass der Deep State etwas mit Kindern zu tun hat, die Eliten ihnen Schaden zufügen, dass sie Kinder gegessen haben und die Illuminaten da irgendwie mit drinhängen.“ Dazu habe er auch im Internet Videos gesehen.
Sein Antrieb, so beteuert Ralf S. immer wieder, sei gewesen, im Fall des „Tag X“ und den zu erwartenden Unruhen nach dem Umsturz bereitzustehen. „Heimatschutzkompagnie, das kann man so und so sehen – für mich ging es um die Hilfe für Alte und kranke Menschen. Nicht darum, mit Maschinenpistolen reinzugehen. Wir sind von Schlimmsten ausgegangen, von Plünderungen. Es hat mir eingeleuchtet, dass man für 14 Tage Vorsorge treffen sollte“, sagt Ralf S. Warum man schießen lernen sollte, habe er auch nicht verstanden. „Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass das naiv und töricht von mir war. Ich wollte den Menschen immer nur helfen.“
„Reichsbürger“ erkennen die Bundesrepublik und ihre Gesetze nicht an. Die Szene ist sehr heterogen, ein Teil wird dem rechtsextremistischen Spektrum zugeordnet.
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