Der Dienstagnachmittag könnte den Krieg in der Ukraine in ein neues Stadium versetzt und dauerhaft verändert haben. In einem polnischen Dorf nahe der Grenze zur Ukraine schlugen zwei Raketen ein. Es ist der erste derartige Vorfall seit dem Beginn des Krieges Ende Februar. Und es ist ein Szenario, vor welchem sich viele gefürchtet haben. Ein Szenario, das viele Fragen aufwirft. Wir haben sie zusammengetragen und liefern Antworten.
Raketeneinschlag in Polen: Was genau ist passiert?
Am Dienstagnachmittag um 15.40 Uhr kam es im Dorf Przewodow zu einer Explosion, bei der zwei polnische Staatsbürger ums Leben kamen. Der Ort befindet sich rund fünf Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Schnell wurde bekannt, dass die Explosion durch eine Rakete ausgelöst wurde, die in dem Dorf einschlug. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gab unterdessen an, dass "zwei Geschosse auf polnischem Boden niedergegangen" seien.
Gibt es Hinweise auf einen gezielten Raketenangriff gegen Polen?
Eine der wichtigsten Fragen, welche die weiteren Entwicklungen beeinflusst. Ein gezielter Raketenangriff auf das polnische Grenzgebiet zur Ukraine kann derzeit genauso wenig ausgeschlossen wie bestätigt werden. Die ersten Einschätzungen legen eher nahe, dass es sich um eine verirrte Rakete oder zwei verirrte Raketen handelte. Es ist aber noch zu früh, um eine klare Annahme treffen zu können. "Wir haben im Moment keine schlüssigen Beweise dafür, wer diese Rakete abgefeuert hat", erklärte der polnische Präsident Andrzej Duda zunächst. Am Mittwochmittag gab er dann ein Update: Es sei wahrscheinlich, dass es sich um eine Rakete der ukrainischen Flugabwehr gehandelt habe. Demnach gebe es keinen konkreten Hinweis bezüglich eines Angriffs auf Polen.
Explosion in Polen: Rakete aus Russland oder Flugabwehrrakete aus der Ukraine?
Nach Angaben der polnischen Regierung stammt die Rakete aus russischer Produktion. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass Russland diese abgefeuert hat. Wenn sich die Herkunft der Rakete bestätigen sollte, dann kämen zunächst sowohl Russland als auch die Ukraine infrage. Beide nutzen im russischen Angriffskrieg Raketen sowjetischer Bauart.
US-Präsident Joe Biden, der sich derzeit mit den anderen Regierungs- und Staatschefs beim G20-Treffen auf Bali befindet, sagte am Dienstagabend, dass es laut Einschätzung der USA unwahrscheinlich sei, dass die Rakete aus Russland abgefeuert wurde. Das ergebe sich aus der Flugbahn des Geschosses. Er betonte aber auch, dass die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen seien.
Am Morgen nach dem Raketeneinschlag in Polen gibt es Hinweise darauf, dass in dem polnischen Dorf mindestens eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine einschlug. Diese Information machte Biden laut der dpa am Mittwoch beim G20-Gipfel auf Bali öffentlich. Demnach könnte es sich um eine Rakete des Systems S-300 gehandelt haben. Diese ist sowjetischer Bauart und stellt einen wesentlichen Bestandteil der Flugabwehr der Ukraine dar. Doch auch Russland nutzt die S-300-Raketen – und zwar auch zu Angriffszwecken.
Ist Polen in der Nato?
Ja, Polen stellt eines der 30 Nato-Mitglieder dar. Das macht den Vorfall umso brisanter, denn das westliche Verteidigungsbündnis würde einen Angriff auf Polen als Angriff auf die Nato auffassen. Außerdem ist das Nachbarland der Ukraine Teil der EU.
Wie reagiert Polen auf den Raketeneinschlag?
Nach dem Raketeneinschlag im Grenzgebiet versetzte Polen seine Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft. Ein Regierungssprecher sagte in Warschau, dass dies auch für uniformierte Dienste gelte. Die polnische Führung kam außerdem noch am Dienstag zu zwei Krisentreffen zusammen.
Wie reagiert Russland auf den Raketeneinschlag?
Aus Moskau kam schnell ein Dementi auf die Meldung, dass es sich um einen Raketeneinschlag gehandelt habe und die Rakete aus russischer Produktion sei. Aus dem Kreml hieß es, dass es sich um eine "Provokation" handele. Derartige Reaktionen kennt man aus dem Verlauf des Krieges in der Ukraine. Russland hatte beispielsweise auch rund um die Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Orten von einer "Provokation der Ukraine und des Westens" gesprochen.
Das Ministerium in Moskau teilte mit, dass keine Ziele im ukrainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen wurden. Es ging auch auf die Fotos aus polnischen Medien ein und behauptete, dass die Trümmerteile nichts mit einem russischen Waffensystem zu tun hätten. Am Mittwoch warf der Kreml Polen eine irreführende Informationspolitik rund um den Raketeneinschlag vor.
Wie reagiert die Ukraine auf den Raketeneinschlag?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyij gab sofort Russland die Verantwortung für den Zwischenfall und wies Mutmaßungen zurück, dass es sich um eine ukrainische Rakete gehandelt habe. Er sagte noch am Dienstag: "Dies ist ein russischer Raketenangriff auf die kollektive Sicherheit! Dies ist eine sehr bedeutende Eskalation. Wir müssen handeln."
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba schrieb auf Twitter: "Russland verbreitet nun eine Verschwörungstheorie, dass es angeblich eine Rakete der ukrainischen Luftabwehr war, die auf Polen niederging. Das ist nicht wahr."
Raketen treffen Polen: Wie fallen die Reaktionen aus Deutschland aus?
"Es ist jetzt notwendig, dass sorgfältig aufgeklärt wird, wie es dazu gekommen ist, dass diese Zerstörung dort angerichtet werden konnte", sage Olaf Scholz (SPD) beim G20-Gipfel auf Bali. Eine klare Schuldzuweisung vermied der Bundeskanzler, der bereits mit dem polnischen Regierungschef Duda Kontakt hatte und ihm sein Beileid aussprach.
"Meine Gedanken sind bei Polen, unserem engen Verbündeten und Nachbarn. Wir beobachten die Situation genau und stehen in Kontakt mit unseren polnischen Freunden und Nato-Verbündeten", twitterte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Sie setzte den Tweet auch auf Polnisch ab.
Raketeneinschlag: Welche Szenarien sind rund um den Vorfall in Polen denkbar?
Derzeit gibt es einige Möglichkeiten, wie es zu dem Raketeneinschlag in Polen gekommen sein kann. Eine davon ist, dass Russland absichtlich eine Rakete auf das polnische Dorf nahe der Grenze zur Ukraine geschossen hat. Dafür gibt es derzeit aber keinerlei Hinweise. Ein anderes mögliches Szenario ist, dass eine russische Rakete unabsichtlich über die ukrainische Grenze hinausflog und in Polen einschlug. In den letzten Wochen und Monaten wurde immer wieder deutlich, dass das russische Militär viele ungenaue Raketen nutzt. Auch weil ein Großteil der präzisen Munition bereits aufgebraucht sein soll.
Eine andere Option ist, dass die Rakete von den ukrainischen Truppen bekämpft wurde und in der Folge in dem polnischen Dorf einschlug. Eine verirrte ukrainische Flugabwehrrakete ist ebenfalls nicht auszuschließen. Der Vollständigkeit halber muss man außerdem die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Ukraine die Rakete absichtlich in das polnische Grenzgebiet geschossen hat.
Wer trägt die Schuld an dem Raketeneinschlag in Polen?
Diese Frage kann derzeit kaum beantwortet werden, da nicht feststeht, wie es zum dem Raketeneinschlag gekommen ist. Auf Bali ergaben sich im Rahmen der Besprechungen nach dem Vorfall allerdings bereits spannende Entwicklungen. Laut der dpa soll es von mehreren Seiten geheißen haben, dass Moskau die Verantwortung für den Vorfall in Polen trage. Auch dann, wenn es sich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt haben sollte. Diese Meinung ergibt sich wohl aus der Ausgangsposition, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, die sich verteidigt.
Wie reagiert die Nato auf den Raketeneinschlag in Polen?
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte am Dienstagabend vor Panik und voreiligen Reaktionen. „Wichtig ist, dass alle Tatsachen festgestellt werden. Die Nato beobachtet die Situation, und die Bündnispartner stimmen sich eng ab", erklärte der Norweger nach einem Telefonat mit Duda auf Twitter.
Stoltenberg berief für den Mittwoch eine Dringlichkeitssitzung der Nato-Botschafter ein. Eine Sprecherin bestätigte, dass es bei dieser um den "tragischen Vorfall" in Polen gehen werde.
Raketen treffen Polen: Wird der Nato-Bündnisfall ausgelöst?
Die wohl wichtigste aller Fragen, da es sich um die weitreichendste handelt. Der Nato-Bündnisfall ist in Artikel 5 geregelt und sieht vor, dass bei einem "bewaffneten Angriff" auf einen Mitgliedsstaat oder mehrere Mitgliedsstaaten eine kollektive Antwort erfolgt. Wie genau diese Antwort aussieht, ist nicht geregelt. In der 73 Jahre alten Geschichte des westlichen Verteidigungsbündnisses wurde der Bündnisfall nur einmal aktiviert: Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Damals bemühte ihn die USA als Mitgliedsstaat.
Derzeit tritt der Nato-Bündnisfall noch nicht in Kraft, da noch nicht geklärt ist, ob es sich tatsächlich um einen gezielten Angriff auf Polen handelte. Auch das Verfahren für Artikel 4 im Nato-Vertrag wurde nicht eingeleitet. In diesem heißt es: "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist."