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Prozess: Zweieinhalb Jahre Gefängnis: Der tiefe Fall des Boris Becker

Prozess

Zweieinhalb Jahre Gefängnis: Der tiefe Fall des Boris Becker

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    Boris Becker mit Lebensgefährtin Lilian De Carvalho Monteiro am Freitag auf dem Weg ins Londoner Gerichtsgebäude.
    Boris Becker mit Lebensgefährtin Lilian De Carvalho Monteiro am Freitag auf dem Weg ins Londoner Gerichtsgebäude. Foto: Tayfun Salci, Imago Images

    Menschen eilen mit Aktentaschen von der U-Bahn-Haltestelle zur Arbeit. Ein Straßenmusiker spielt unter einer mit Graffitis besprühten Unterführung die Melodie von „Love Hurts“ auf einer elektronischen Geige. Liebe schmerzt. Für die meisten Menschen, die sich am Freitag unweit der Tower Bridge im Zentrum Londons aufhalten, ist es ein Tag wie jeder andere. Nicht so für den früheren Tennisstar Boris Becker. Dieser Freitag, dieser 29. April 2022 – er ändert alles für ihn. Es ist der Tag von Beckers bitterster Niederlage. Becker ist immer wieder gefallen und aufgestanden. Jetzt ist er endgültig am Boden.

    Als er am Morgen erstmals gesehen und fotografiert wird, hat er eine Sporttasche geschultert und trägt zum Anzug eine Wimbledon-Krawatte. Man könnte meinen, der sechsmalige Grand-Slam-Champion sei zu einem Termin im All England Club unterwegs, jenem Ort im Südwesten der britischen Hauptstadt, an dem er vor knapp 37 Jahren seinen ersten großen Karrieretitel gewann. Dieser Gerichtstag in London ist für Becker so einschneidend wie der 7. Juli 1985, an dem er zum jüngsten Wimbledon-Sieger aller Zeiten wurde – und es bis heute geblieben ist.

    London ist zum Schicksalsort für Boris Becker geworden

    Für den 54-Jährigen ist es in den vergangenen Prozesswochen um nichts weniger als seine Zukunft gegangen, beruflich und privat. Er mag auf einen glimpflichen Prozessausgang gehofft haben, am späten Freitagnachmittag ist jede Hoffnung zerstört. Richterin Deborah Taylor, die von Medien als „knallhart“ beschrieben wurde, verurteilt Becker zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft – ohne Bewährung. Becker muss ins Gefängnis.

    Damit ist London – Wimbledon ist nicht weit vom Gericht entfernt – endgültig zu einem Schicksalsort für ihn geworden. Becker wurde nach seinem Wimbledon-Sieg zu einem deutschen Nationalhelden. Zum Sympathie- und Werbeträger. Becker wurde reich. Und nun?

    Gericht: Becker hat Vermögenswerte im Insolvenzverfahren verschleiert

    Im Laufe der Verhandlung, die am 21. März begann, wurde ihm vorgeworfen, während eines Insolvenzverfahrens Vermögenswerte nicht ordnungsgemäß angegeben zu haben, darunter Davis-Cup-Medaillen, eine Wohnung im Londoner Stadtteil Chelsea sowie zwei Anwesen in Deutschland. Er wies die Vorwürfe immer wieder zurück, betonte, dass er nichts absichtlich unterschlagen habe. Vergeblich.

    Die Argumentation überzeugte die Jury, bestehend aus zehn Männern und einer Frau, nicht. Sie sprach ihn Anfang April in vier von möglichen 24 Anklagepunkten schuldig. Schon das ein schwerer Schlag für ihn. Die Jury befand, dass er Zahlungen an seine Ex-Frauen Lilly und Barbara, eine Immobilie in seiner Heimatstadt Leimen und Anteile an einer Firma für Künstliche Intelligenz im Zuge seines Insolvenzverfahrens nicht offenlegte.

    Ahnte Becker schon, dass er ins Gefängnis muss?

    Am Freitag dann: die Verkündung des Strafmaßes. Bereits früh am Morgen scharen sich dutzende Journalisten und Journalistinnen mit ihren Kameras vor dem Southwark Crown Court, einem Gericht unweit der Themse, an dem unter anderem Betrugsfälle verhandelt werden. Becker kommt am späten Vormittag und passiert die Sicherheitskontrollen mit seiner Partnerin Lilian De Carvalho Monteiro. Auch sein Sohn Noah Becker ist wieder mit dabei, um seinen Vater zu unterstützen, bepackt mit einer grünen Umhängetasche.

    Becker mag gehofft haben, er mag aber auch kommen gesehen haben, was ihn erwartet – jedenfalls soll er zuvor noch einmal seine „Freiheit genossen“ haben, wie es im Laufe des Tages heißt. Fotos zeigen ihn, wie er durch den Stadtteil Notting Hill spaziert, im Kaufhaus Harrods einkauft und seine Partnerin liebevoll umarmt. Auch diese Bilder bestätigen, wie hoch das Interesse an dem Fall nicht nur in Deutschland, sondern auch im Vereinigten Königreich ist. Dort hatte Becker eine zweite Heimat gefunden. Dort fühlte er sich wohl – anders als in Deutschland, wo er sich nicht selten verspotten lassen musste. Wo er als einer galt, der auf dem Tennisplatz brillierte, abseits davon aber wenig im Griff hatte.

    Noch während seiner Karriere bricht Becker mit wichtigen Wegbegleitern

    Beckers Drama begann schon zu seinen aktiven Zeiten, als er wichtige Wegbegleiter aus seiner Entourage verstieß, wenn sie ihm unbequem oder lästig wurden. Er vertraute sich am liebsten selbst während seiner professionellen Tenniszeit. Und auch danach. Er hatte dabei nicht zuletzt die treuherzige Vorstellung, nach seinem Leben im Tourzirkus werde er im Business die wichtigen Punkte erzielen. Sein Scheitern als Unternehmer verklärte er gern mit der Behauptung, als Grüßaugust sei er eben nicht geboren worden. Er müsse eben auch Risiken eingehen.

    Boris Becker muss ins Gefängnis.
    Boris Becker muss ins Gefängnis. Foto: Kirsty O'connor, PA Wire/dpa

    Auch dass das Strafmaß ausgerechnet in „Court 1“, im zweiten Stock des verklinkerten Gerichtsgebäudes, verkündet wird, erinnert so manche Beobachterinnen und Beobachter am Freitag an Beckers beste Zeiten: Das Wimbledon-Finale findet ja traditionell auf „Platz 1“ statt. Ein Spiel ist der Prozess gegen ihn keinesfalls. Es geht um die Frage: Gefängnis- oder Bewährungsstrafe. Es geht um alles.

    Staatsanwältin hält Beckers Verhalten für Vorsatz

    Richterin Taylor betritt in ihrer schwarz-roten Robe am Mittag den schmucklosen Gerichtssaal. Und es scheint, als hielten alle Anwesenden kurz die Luft an. Becker hatte bereits in einem aus Sicherheitsgründen eingerichteten gläsernen Raum im Raum Platz genommen. Er wirkt zu diesem Zeitpunkt ernst, aber noch gefasst.

    Er muss sich gedulden. Denn bevor es zur Urteilsverkündung kommt, ergreifen Staatsanwältin Rebecca Chalkley und sein Verteidiger Jonathan Laidlaw das Wort, um den Fall noch einmal einzuordnen und Empfehlungen über das Strafmaß abzugeben. Chalkley weist darauf hin, dass Becker in seinem Verfahren vorsätzlich „unehrlich“ gewesen sei. Mit Blick auf das mögliche Strafmaß betont sie, dass es wenig vergleichbare Fälle gebe. Sie bittet die Richterin darum, zu bedenken, dass schon bei deutlich geringeren Summen Haftstrafen von über einem Jahr verhängt wurden.

    Beckers Anwalt Jonathan Laidlaw ist jetzt an der Reihe. Er argumentiert höflich, manchmal leicht stotternd, dass Becker viele Überweisungen getätigt habe, um seinen Pflichten nachzukommen, seinen Kindern und seiner Ex-Frau gegenüber. Das, so bittet er die Richterin, solle sie doch im Hinterkopf behalten. Er holt dabei, den Blick auf seinen Aktenordner gerichtet, weit aus, so weit, dass sie ihn fragt: „Wissen Sie schon, wie lange Sie noch brauchen?“ Nein, es läuft wirklich nicht gut für Becker.

    Anwalt sagt, Becker habe schon alles verloren

    Laidlaw bemüht sich danach, schneller zum Punkt zu kommen und sagt endlich: Becker habe „alles verloren“, das Verfahren habe „alles zerstört“, auch seinen Ruf. Er nimmt Bezug auf das riesige Medienaufgebot vor dem Southwark Crown Court. Becker könne keine Arbeit mehr finden und sei damit von nun an auf die „Großzügigkeit“ von anderen angewiesen, meint Laidlaw. Er schlägt ein mögliches Strafmaß von „zwei Jahren“ vor, ausgesetzt zur Bewährung.

    Boris Becker musste sich im Laufe des Verfahrens viele unangenehme Fragen gefallen lassen, seine Antworten zeichneten ein wenig schmeichelhaftes Bild von ihm. Es war das einer tragischen Figur, nicht das eines Helden.

    Es ging also um seinen Umgang mit Geld, Immobilien und um sein Privatleben. Seine Argumentationslinie: Er habe nicht gewusst, welche Regeln in einem Insolvenzverfahren gelten, sei immer um Transparenz bemüht gewesen. Seine Pokale: verschollen. Seine Wohnungen: verkauft oder so gut wie verkauft. Boris Becker, so betonte sein Verteidiger wieder und wieder, sei ein Mann, der schlicht den Überblick verloren habe, in Gelddingen hilflos sei. Naiv, aber unschuldig – so stellte er Becker dar.

    Becker nimmt die Verkündung des Strafmaßes reglos entgegen

    Nach der Mittagspause wird es ernst. Richterin Deborah Taylor liest das Urteil vor, emotionslos und mit sonorer Stimme. Sie sagt, sie erkenne es an, dass er sich in einem Chaos befunden und seine Vergehen nicht von langer Hand geplant habe. Auch die Briefe, die sie von seiner Familie bekommen habe, habe sie berücksichtigt. Sie müsse jedoch den Schaden in Betracht ziehen, der für Beckers Gläubiger entstanden sei, indem er unerlaubt und vorsätzlich Gelder aus der Insolvenzmasse entfernt habe. Die Forderungen hatten sich auf beinahe 60 Millionen Euro angehäuft.

    Taylor verurteilt Becker zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft. Ohne Bewährung. Er nimmt den Schuldspruch reglos entgegen. Sein Sohn Noah wirft ihm einen erschrockenen Blick zu.

    Später hat er wohl nicht einmal mehr die Möglichkeit bekommen, nach Hause zu fahren, um seine Koffer zu packen. Stattdessen, so ist zu hören, sei er direkt in ein Gefängnis eingeliefert worden. „Das ist in Großbritannien so üblich“, erklärt Paul Vogel, Promi-Anwalt mit einem Büro in London.

    Was passiert nun mit Boris Becker?

    Medienberichten zufolge könnte es sich um das „Wandsworth Prison“ im Süden Londons handeln. Ein Gefängnis aus viktorianischer Zeit, das Inhaftierten zufolge „bröckelnd, überfüllt und von Ungeziefer befallen“ sei. Wenigstens gilt es als eher unwahrscheinlich, dass Becker nach „Belmarsh“ kommt, ein einschüchternder Klinkerbau im Südosten der britischen Hauptstadt. Das Hochsicherheitsgefängnis ist vielen bekannt, seit der Whistleblower Julian Assange dort untergebracht wird. Assange wurde 2019 wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen zu zunächst 50 Wochen Haft verurteilt. Ein wegen seiner Härte unter den Anhängern des Wikileaks-Gründers umstrittener Richterspruch, für den ebenfalls Taylor verantwortlich war.

    „Ich bin ein Mensch, der niemals aufgibt“, hatte Boris Becker im Vorfeld des Prozesses in einem Interview gesagt. Am Freitag verbleibt ihm ein letzter schwacher Hoffnungsschimmer: Er kann Rechtsmittel einlegen. Dabei muss er jedoch detailliert argumentieren und überdies eine Frist von 28 Tagen einhalten. Es scheint ein aussichtsloses Unterfangen.

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