Die Pariser Kirche Saint-Séverin trägt noch keinen vorweihnachtlichen Schmuck an diesem kalten Abend, aber das Lied, das in dem gotischen Bau ertönt, verströmt feierliche Stimmung. Ein Chor, bestehend aus ein paar Dutzend Männern und Frauen verschiedensten Alters, probt das Lied „Cantique de Jean Racine“ von Gabriel Fauré, „Gesang von Jean Racine“. Das getragene Werk mit seinem ruhigen Rhythmus erschien den Chorleitern festlich genug für einen besonderen Anlass: die Messe am 11. Dezember in der Kathedrale Notre-Dame, kurz nach ihrer Wiedereröffnung am 7. Dezember durch Präsident Emmanuel Macron und den Erzbischof von Paris, Laurent Ulrich.
Fünfeinhalb Jahre nach dem schweren Brand können Besucher demnächst das wiederhergestellte Innen-Antlitz der berühmtesten Kathedrale Frankreichs, die nur einen Steinwurf von der Kirche Saint-Séverin entfernt liegt, bestaunen: die in frischem Glanz erstrahlenden Farben der Gemälde, die weißen Wände, die restaurierten Fenster, durch die mehr Licht fällt als zuvor. „Der Blick, der sich eröffnet, wenn man durch das Hauptportal geht, ist einfach atemberaubend“, verspricht Philippe Jost, der zuständige Bauleiter. 47 Prozent der Menschen in Frankreich sagten in einer Umfrage, dass sie Notre-Dame bald besichtigen wollen.
Bildhauer, Restauratoren, Steinmetze und Zimmerer singen gemeinsam im Chor
Die Mitglieder des oben genannten Chors hingegen kennen diese Ansichten längst, sie hatten sogar einen wesentlich Anteil an dem so gelungenen Wiederaufbau. Sie sind Bildhauer und Restauratoren, Steinmetze oder Zimmerer – und bilden gemeinsam den „Chor der Gesellen von Notre-Dame“. Gegründet hat er sich während der Zeit, als sich Angehörige der verschiedensten Berufsgruppen jeden Tag auf derselben Baustelle trafen, Freundschaften knüpften und irgendwann beschlossen, nicht nur gemeinsam zu arbeiten, sondern auch zu singen.
Felicja Lamprecht sitzt eingehüllt in ihre weiße Winterjacke zwischen den Sopran-Sängerinnen in der Kirche Saint-Séverin und folgt mit dem Blick konzentriert den Bewegungen des Dirigenten. Sie ist Hobby-Sängerin, Künstlerin und Restaurateurin, spezialisiert auf Wandmalereien. Das Flammen-Inferno damals sei „ein riesiger Schock“ für die Frau gewesen, die sich beruflich mit alten Monumenten und Kulturerbe befasst. Kurz nach dem Unglück wurde sie gefragt, ob sie mit ins Restaurationsteam kommt. Die 38-Jährige war schon an vielen Baustellen von Pariser Monumenten beteiligt, seit sie nach dem Studium in ihrem Heimatland Polen nach Frankreich zog. „Weil es schnell gehen musste, wurden besonders viele Arbeitskräfte auf einmal gebraucht.“
Notre-Dame ist eine Ausnahme-Baustelle
Gemeinsam mit ihren Kolleginnen kümmerte sie sich um die Restaurierung der Gemäuer und Wandgemälde von zwölf Seitenkapellen im Chorbereich. Einen Satz lässt die junge Frau im Gespräch immer wieder fallen: „So etwas passiert eigentlich nicht in einem Leben!“ Er spiegelt das immerwährende Staunen, die Verblüffung, ja Verzauberung wider, an einer Ausnahme-Baustelle wie jener der Kathedrale Notre-Dame mitarbeiten zu dürfen. Einen kleinen Beitrag am Wieder-Erstrahlen dieses Pariser Symbols geleistet zu haben, dessen Brand die Menschen nicht nur in Frankreich, sondern weit darüber hinaus erschütterte. Die spektakuläre Entwicklung mitzuerleben, die der jahrhundertealte, vom Feuer und den Löscharbeiten gezeichnete Kirchenbau innerhalb von nur gut fünf Jahren durchgemacht hat. Lamprecht zeigt ein Foto, das sie vom Dachbereich von Notre-Dame aus aufgenommen hat. Es bietet eine weite Sicht über Paris. „So etwas vergisst man nie im Leben!“
In ihrem Handy hat sie dutzende Bilder und Videos von den Arbeiten gespeichert. So kann sie den Unterschied zwischen dem Vorher und dem Nachher zeigen. Dort, wo heute die Wandbilder auf hellen Mauern in kräftigen Farben strahlen, waren die Wände zuvor grau oder schwarz, von Rußspuren gezeichnet, die Gemälde kaum noch erkennbar. Zentimeterhohe Staubschichten und uralte Spinnennetze galt es zu entfernen. Im Anschluss injizierte sie „wie ein Doktor“ mit einer Spritze Klebematerial hinter jedes Mauerstückchen, um es zu befestigen, dann zu reinigen und die Farbbereiche präzise neu zu füllen. „Wir dürfen uns keinerlei eigene künstlerische Interpretation erlauben, alles muss dem Original entsprechen.“ Millimeter für Millimeter arbeitete sie sich vor. Da das Feuer vom Mittelschiff aus durch eine Art „Kamin-Effekt“ nach oben loderte, wurden unter anderem das aus dem 13. Jahrhundert stammende Balkenwerk, das Dach und ein Teil des Gewölbes zerstört. Andere Bereiche wie die Seitenkapellen erwiesen sich als weniger stark in Mitleidenschaft gezogen als zunächst befürchtet.
Macron hatte versprochen, Notre Dame in fünf Jahren wieder aufzubauen
Seit dem Jahr 1864, als der Architekt Eugène Viollet-le-Duc Notre-Dame umfassend umgestaltet hat und auch den charakteristischen Spitzturm hinzufügte, welcher beim Brand in die Tiefe stürzte und inzwischen ersetzt wurde, gab es keine Restaurierungsaktion der Kapellen. Tatsächlich hatten entsprechende Arbeiten noch vor dem Feuerunglück begonnen. „Normalerweise nimmt das enorm viel Zeit in Anspruch“, sagt Felicja Lamprecht. „Nur galten seit dem 15. April 2019 nicht mehr dieselben Regeln.“
Sie selbst sei – wie viele Experten – skeptisch gewesen, als Präsident Emmanuel Macron bereits am Tag nach der Katastrophe, dem 16. April 2019, bei einer Rede im Fernsehen versprach, die Kathedrale in nur fünf Jahren wiederaufzubauen, und zwar „noch schöner als zuvor“. Als größenwahnsinnig, verblendet oder schlichtweg unwissend wurde er geschimpft. Macron wagte es, eine Parallele mit den genialen Bauherren der rund 850 Jahre alten Kathedrale und der heutigen Zeit zu ziehen. Er tat das wohl auch aus politischem Kalkül, stark unter Druck geraten durch die „Gelbwesten“-Protestbewegung, die sich damals auf ihrem Höhepunkt befand. Er wollte den Menschen neue Hoffnung geben, ein Gefühl der Stärke vermitteln, sie motivieren.
Die Arbeiten an der äußeren Fassade werden noch andauern
Das Land steckt längst in einer weiteren Krise, doch hinsichtlich Notre-Dame hat Macron Recht behalten. Nach nur gut fünf Jahren erstrahlt die Kathedrale in neuem Glanz, auch wenn die Arbeiten an der äußeren Fassade noch lange andauern werden. Die Priorität wurde auf den Innenraum gelegt, um ihn möglichst bald wieder für die Gläubigen und die Besucher öffnen zu können. Heute sei bewiesen, dass die Einhaltung der kurzen Frist „nicht nur möglich war, sondern dass alle sie im Grunde zutiefst herbeisehnten“, hieß es aus dem Élysée-Palast anlässlich des letzten Besuchs Macrons der Baustelle am vergangenen Freitag, dem insgesamt siebten. Möglich war der enorme Kraftakt der Innen-Restaurierung in Rekordtempo auch, weil nicht gespart werden musste. 846 Millionen Euro an Spenden aus dem In- und Ausland kamen zusammen. Dadurch konnten in Hoch-Zeiten rund 500 Personen gleichzeitig auf der Baustelle arbeiten.
Aber es gab auch Rückschläge, vor allem am Anfang. Die Arbeiten mussten mehrmals unterbrochen werden, zunächst aufgrund des hohen Blei-Aufkommens im Inneren des Gebäudes, dann durch die Corona-Pandemie. „Beim Betreten und Verlassen respektierten wir ein striktes Protokoll, das in der ersten Zeit jeden Tag Stunden in Anspruch nahm“, berichtet Felicja Lamprecht. „Wir mussten uns komplett wie die Astronauten verkleiden mit einer Schutz-Kombination, Gesichtsmaske und manchmal Zusatz-Beatmung, vorher und nachher duschen.“ Das Prozedere war auch nötig, wenn alle gemeinsam zum Mittagessen in die extra vor Ort eingerichtete Kantine gingen, wo sich die Vertreter der verschiedensten Metiers trafen. Die Arbeit an einer Baustelle schweiße die Beteiligten stets zusammen, sagt Lamprecht – „wie die Schauspieler an einem Filmset“, die sich danach jeweils wieder anderen Projekten zuwenden. Aber diese Erfahrung brachte sie auf besondere Weise einander näher. Auch deshalb formierte sich der Chor.
Chirurg arbeitet an Restaurierung der Kathedrale mit
Er passe „zum mittelalterlichen Geist von Notre-Dame“, sagt der Bildhauer Philippe Giraud, der einen Teil der Pflanzenmotive im Südlichen Querschiff bearbeitet hat. „In der damaligen Zeit, als die Kathedrale erbaut wurde, sangen die Arbeiter auf den Baustellen, es gab Prozessionen und Messen.“ Mit einem Zimmermann verabredete er sich manchmal, um morgens gemeinsam in einer der Kapellen zu singen – „ein unheimliches Privileg“. Der 57-Jährige lebt und arbeitet in der Normandie und wurde angerufen, um das Team der rund 30 Bildhauer zeitweise zu verstärken, wenn beispielsweise die Restaurierung eines Mauerabschnitts rasch abgeschlossen werden musste, um den Schreinern Platz zu machen. Er empfand die Arbeit nicht nur als herausragend, da Notre-Dame „die Königin der Kathedralen“ sei, schon durch ihren einzigartigen Platz auf einer der Seine-Inseln, sagt Giraud. „Wichtig war auch die Solidarität der Beteiligten untereinander, die Arbeit in Teams.“ Er wünsche sich, dass in Paris ein Modell wie das der Dombauhütte in Köln aufgebaut werden könnte, dank der die fortlaufend Renovierungsarbeiten am Dom durchgeführt werden.
Manchmal brachte er Raphaël Vialle als Praktikanten mit, der nur eigentlich ein ganz anderes und doch irgendwie verwandtes Metier hat – Vialle ist Chefarzt in einem Krankenhaus und operiert Kinder an der Wirbelsäule. „Wie ein Bildhauer arbeite ich mit der Hand, verwende dieselben Werkzeuge und mache ganz ähnliche Gesten.“ Aus privatem Interesse habe er eine Ausbildung zum Bildhauer gemacht und erhielt so die Gelegenheit, an seinen freien Tagen an der Baustelle der Kathedrale mitzuarbeiten, so der Chirurg, der ebenfalls im „Chor der Gesellen von Notre-Dame“ mitsingt. Er allein wisse, wo sich die kleine Stelle im Südturm befinde, die er bearbeitet habe, doch seinen kleinen Anteil am Gesamtwerk geleistet zu haben, sei „sehr berührend“, sagt Vialle. „Interessant war zu sehen, dass eine Baustelle ähnlich wie ein Krankenhaus funktioniert, wo die Arbeitenden aus verschiedenen Bereichen kommen und einander ergänzen.“ Das gemeinsame Ziel aller Beschäftigten in einer Klinik sei die Gesundheit des menschlichen Körpers, bei den Restaurierungsarbeiten ging es darum, dem Pariser Wahrzeichen wieder Leben einzuhauchen. Ein ehemaliger Patient denke immer dankbar an jene zurück, durch die er wieder gesund wurde. „Genauso wird uns die Kathedrale nicht vergessen.“
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