Die automatische Metro ohne Fahrer saust in die Endstation ganz im Norden von Paris und bremst dort zielgenau. Die Türen öffnen sich, Passanten strömen heraus. Mit seinen weiten, hell beleuchteten Flächen und den vielen nebeneinander auf- und abfahrenden Rolltreppen sieht der Bahnhof aus wie ein futuristischer Flughafen, durch den zigtausende Menschen geschleust werden könnten. Zwar nehmen mit jedem Tag die Geschäftigkeit und die Zahl der Passagiere zu, die hier in der nagelneuen Station „Saint-Denis – Pleyel“ ankommen. Doch noch wirkt der moderne Riesenbau, konzipiert vom japanischen Architekten Kengo Kuma, überdimensioniert. Wird er es bleiben?
Für die Olympischen Spiele in Paris, die an diesem Freitag beginnen, ist die Metro-Station jedenfalls wichtig, denn sie liegt nur ein paar Gehminuten vom „Dorf der Athleten“, wie es auf Französisch genannt wird, entfernt. Das 66 Hektar große Gelände befindet sich auf den Flächen dreier Gemeinden: Saint-Denis, Saint-Ouen und l’Île-Saint-Denis. Diese nördlichen Vorstädte, die Banlieues, grenzen an Paris, gehören aber bereits zum Département Seine-Saint-Denis mit der berüchtigten Nummer 93. Und damit wie zu einer anderen Welt. Hier dominieren riesige, teils heruntergekommene Wohnsiedlungen, Autobahnbrücken und Lagerdepots, weit weg von den schicken Pariser Stadtpalais. Das „93“, das „neuf-trois“, ist das ärmste Département Frankreichs, mit zahlreichen sozialen Brennpunkten, Problemen wie Drogenhandel und einem hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Hier leben so viele Minderjährige wie in keinem anderen Département.
Dass Menschen aus der ganzen Welt hierherkommen, sei wichtig
Ja, es sei kein einfaches Pflaster, sagt Slimane Tirera, ein Grünen-Politiker, der im Organisationsteam der Olympischen Spiele arbeitet und sich selbst als „Kind“ von Seine-Saint-Denis bezeichnet. Aber die Medien betonten oft nur die negativen Seiten, betont Tirera. „Sie vergessen, dass es hier auch mehr Gründungen von Vereinen und Unternehmen gibt als anderswo, und die Bewohner haben eine unglaubliche Resilienz und Solidarität untereinander.“ Der junge Mann steht vor den neuen Bürotürmen der Organisatoren der Olympischen Spiele, die hier gebaut wurden. Sie verbesserten jetzt schon das Lebensumfeld für die Bewohner, ist er überzeugt. „Es war völlig verlassen und heruntergekommen, alles lag brach. Das hat sich total verändert.“ Dass demnächst Menschen aus aller Welt hierherkommen, sei ein wichtiges Symbol, sagt der Grünen-Politiker.
Erst vor vier Wochen und gerade noch rechtzeitig vor den Spielen hat Präsident Emmanuel Macron die Station „Saint-Denis – Pleyel“ als neue Verlängerung der superschnellen Linie 14, die vom südlichen Pariser Flughafen Orly kommend die Stadt durchquert, eingeweiht. Es handelt sich um einen Teil des gigantischen Infrastrukturprojektes, das Ex-Präsident Nicolas Sarkozy 2009 unter dem Namen Grand Paris Express lancierte. Es sah neue oder ausgebaute Metrolinien mit einer Länge von insgesamt 200 Kilometern vor, um die Vororte besser an die Hauptstadt anzubinden. Insgesamt 68 Bahnhöfe entstehen bis 2030 im Pariser Ballungsraum. „Saint-Denis – Pleyel“ gehört zu den ersten. Ein großer Verkehrsknotenpunkt für bis zu 25.000 Menschen, die hier täglich ein- oder umsteigen, soll daraus werden, vergleichbar mit der quirligen Mega-Station Châtelet – Les Halles im Zentrum von Paris.
In Saint-Denis steht das größte Fußballstadion des Landes
Auch wenn die Baustellen für den Grand Paris Express schon vor der Olympia-Vergabe an Paris begonnen hatten, gehörte es zu den großen Versprechen der Veranstalter der Spiele, die vernachlässigten nördlichen Vorstädte mitzunehmen. Tatsächlich werden sie zu einem der zentralen Olympia-Schauplätze. Die Stadt Saint-Denis verfügt bereits über Frankreichs größtes Fußballstadion, das Stade de France, in dem die Athletik-Wettbewerbe, 7er-Rugby und die Abschlusszeremonie stattfinden; außerdem entstanden ein nagelneues Olympisches Wassersportzentrum und ein Bezirkswasserzentrum, welche in der nahen Zukunft von Vereinen, Schulklassen und generell den Einheimischen genutzt werden können.
Und dann ist da das Olympische Dorf, erbaut auf einem ehemaligen Industriegelände an der Seine. Ab Herbst, wenn auch die Paralympischen Spiele vorbei sind, wird es in ein Öko-Stadtviertel mit Wohnraum für 6000 Bewohner, darunter viele Sozialwohnungen, Büroräumen, einer Schule, einer Kinderkrippe und Geschäften umgewandelt. 9000 Bäume und Sträucher wurden gepflanzt, eine Fußgängerpromenade entlang des Seine-Ufers gestaltet, nach dem Vorbild von Paris. „Bei der Planung des Olympischen und Paralympischen Dorfes wurde die Konzeption als Stadtviertel immer gleich mitgedacht“, sagt dessen Direktor Laurent Michaud. „Die Umwandlung wird deshalb schnell, ohne viel Aufwand oder große Kosten vonstattengehen.“
Noch sind die gepflanzten Bäumchen jung und klein und der drei Hektar große Park nicht angelegt, weil hier übergangsweise ein Busbahnhof für den Transport der Sportler steht. Die nagelneue Siedlung wirkt trotz der bunten Farben der Gebäude steril. Doch die Verantwortlichen sind stolz auf das Olympische Dorf. „Wenn hier erst einmal die Schule und die Krippe eröffnen, kommt schon Leben herein“, verspricht Marion Le Paul, die stellvertretende Chefin des staatlichen Bauträgers Solideo. Durch Maßnahmen wie die Herstellung von CO₂-armem Beton direkt vor Ort oder die Lieferung von tonnenweise Material über die Seine habe die Baustelle Rekorde in Sachen Umwelt- und Klimafreundlichkeit gebrochen. Verwendet wurden viel Holz und andere Naturmaterialien; die weißen Luftreiniger bleiben dauerhaft. Nachhaltige Gebäudeoberflächen sollen an heißen Tagen die Hitze abmildern.
Die Wohnungen finden bislang nur schleppend Abnehmer
Das alles klingt verlockend – doch die Wohnungen, die vom Ein-Zimmer-Appartement zu größeren Familienunterkünften reichen und von vier Immobilienkonzernen verkauft werden, finden bislang nur mühsam Abnehmer. Der Preis von 6000 bis 7500 Euro pro Quadratmeter liegt deutlich unter dem von Paris, ist aber für die Verhältnisse vor Ort hoch. In einer Wohnung zu leben, die von Olympia-Hochleistungssportlern bewohnt war, zieht in der aktuellen Immobilienkrise nicht die Massen an – trotz der guten Anbindung und der Tatsache, dass vor allem viele Familien seit Jahren Paris verlassen und in die günstigeren Vororte ziehen.
Saint-Denis sei hierbei lange eine Ausnahme gewesen, sagt Nicolas Osad, der über viele Jahre hier gelebt und als Künstler urbane Projekte organisiert hat. „Es hatte immer seinen ganz eigenen Charakter und hielt der Gentrifizierung, die in der Umgebung einsetzte, stand.“ Dabei befinden sich seit Jahren große Filmstudios in der 100.000-Einwohner-Stadt, wo auch etliche Firmen und Konzerne wie die Telekommunikationsanbieter SFR und Orange ihren Sitz haben.
Die Dinge begannen sich zu verändern, seit die einstige kommunistische Bastion 2020 einen sozialistischen Bürgermeister bekam, Mathieu Hanotin, der ein großer Olympia-Verfechter ist. „Er bemüht sich um Projekte, um etwas wohlhabendere Einwohner anzuziehen, damit es mehr soziale Durchmischung gibt“, sagt Osad. Hanotin habe das Stadtzentrum einem Transformationsprozess unterzogen, baufällige Häuser abgerissen und Immobilienkonzerne angelockt, um neue zu errichten – gerade auch vor den Spielen, um „präsentierbarer“ zu sein, sagt der 42-jährige Künstler. „Im Zuge von Olympia gibt es für Saint-Denis und die ganze Gegend sehr tiefgreifende Veränderungen.“ Positiv seien die Schwimmbäder, weil es an diesen besonders fehlte, die neuen Parks oder Turnhallen. Aber die weniger Wohlhabenden könnten abgedrängt werden. Und profitieren die Einheimischen wirklich von der Großveranstaltung?
Die Frage ist: Was wird von den Spielen bleiben?
Osad neigt skeptisch den Kopf. Er erinnert sich, wie das bei der Fußball-Europameisterschaft 2016 lief, die unter anderem hier im Stade de France stattfand. „Es gab eine enorme Frustration bei den Geschäftsleuten, die sich deutlich mehr Aktivität erhofft hatten, aber letztlich kamen in den Fan-Zonen nur die Sponsoren zum Zuge.“ Der Kapitalismus sei König, so der 41-Jährige.
Slimane Tirera, der Grünen-Politiker, sieht das anders. Für die Menschen hier sei „einfach genial“, was gerade passiere: die Sport- und Kulturveranstaltungen, die Führungen durch das Olympische Dorf, jetzt ein Feier-Sommer vor ihrer Haustür. „Die Leute, die nicht in die Ferien fahren, kommen als Familie, in den Schulen gab es Sportveranstaltungen und jedes Kind hat ein Zwei-Euro-Münzstück mit Sonderprägung bekommen. Solche Dinge bleiben hängen.“
Dasselbe gelte für die sportlichen Einrichtungen oder für all die jungen Erwachsenen, die im Zuge der Spiele ausgebildet wurden und die Erfahrung in ihren Lebenslauf schreiben können. „Ich sage den Leuten, die jetzt alles kritisieren: Treffen wir uns wieder in zehn Jahren.“ Spätestens dann wird sichtbar sein, was von diesen Spielen wirklich geblieben ist, die plötzlich die Gegenden, die so lange im Schatten von Paris standen, ins Rampenlicht stellten. Die nagelneue Metrostation jedenfalls taugt als Vorzeige-Bahnhof für die Gäste aus aller Welt, die Saint-Denis nun erwartet.
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