Strahlender Sonnenschein, Menschen in Dirndl und Lederhose, Brauereigespanne, hie und da Pferdeäpfel auf den Straßen: Manches ist wie immer an dem Tag, an dem eigentlich das Oktoberfest eröffnet worden wäre.
"Ozapft is" hieß es in München auch an diesem Samstag, vielerorts herrschte Wiesnlaune. In gut 50 Gaststätten luden Wirte zur "WirthausWiesn" mit Wiesnbier, Hendl, Haxn und Volksmusik, oft mit Gitarre und Akkordeon statt mit Blasinstrumenten - weniger Aerosole. Gleichzeitig stiegen die Coronazahlen weiter.
Teils griff Prominenz zum Schlegel, um traditionsgerecht um 12.00 Uhr ein Fass anzuzapfen. Ex-Oberbürgermeister Christian Ude (SPD), seinerzeit Anzapfkönig, stach im Bahnhofsviertel ein 20-Liter-Fass an - mit zwei Schlägen - und "einer Handvoll weiterer", wie er selbstironisch sagte. Einst war er der erste OB, der das Anzapfen auf dem Oktoberfest mit zwei Schlägen schaffte. Der 72-Jährige, der immerhin noch in seine Lederhose passte, ist seit sieben Jahren aus dem Geschäft.
Udes Nachfolger Dieter Reiter (SPD), der sonst das zehnmal größere 200-Liter Fass auf der Wiesn angezapft hätte, enthielt sich. Er hatte vorab gemahnt, sich strikt an die Coronaregeln zu halten, und versichert, dies werde engmaschig kontrolliert. München hatte am Freitag mit 50,7 die kritische 7-Tage-Inzidenz pro 100 000 Einwohner überschritten, ab der verstärkte Infektionsschutzmaßnahmen vorgesehen sind. Am Samstag stieg der Wert laut Stadt auf 54,2. Anfang der Woche soll ein Krisenstab darüber beraten, ob weiterführende Maßnahmen zu beschließen sind.
Um wilde Wiesn-Ersatzfeiern mit hohem Infektionsrisiko zu verhindern, verhängte die Stadt auf der Theresienwiese, wo sonst Millionen Liter Bier fließen, für Samstag ab 9.00 Uhr ein Alkoholverbot. Eine Stunde vorher nutze ein Grüppchen von Wiesnfans in Tracht auf den Treppen zur Bavaria-Statue die Gelegenheit, um mit Maßkrügen anzustoßen. Nebenan ließen sich Menschen auf das Coronavirus testen: Auf dem Wiesngelände steht derzeit ein Testzelt, aber kein Festzelt.
Die Polizei überwachte das Alkoholverbot mit Dutzenden Kräften. Eine Gruppe von Wiesnbedienungen picknickte in Tracht mit Cola-Mix und alkoholfreiem Radler unterhalb der Bavaria. Die WirtshausWiesn sahen sie kritisch: "Das ist ein Schmarrn" sagte Nicolai Schmidt, der normalerweise in einem der Festzelte gearbeitet hätte.
In teils mit Corona-Abständen gut besetzten Biergärten wurde dafür ausgelassen gefeiert. Manche Gaststätten waren schon vorher bis auf den letzten Platz ausreserviert. Die Wiesn sei ein "tiefes Lebensgefühl", sagte der Sprecher der Innenstadtwirte und Chef des Augustiner Klosterwirt, Gregor Lemke. "Es geht gar nicht so sehr um die Wiesn, die Leute wollen dieses Lebensgefühl spüren."
Dabei mehrten sich kritische Stimmen zur "WirthausWiesn". Unter anderem auf Twitter gab es Unmut. Ein Nutzer fand es "unverantwortlich", die Veranstaltung in der aktuellen Situation nicht abzusagen. "Die Kinder müssen sich einschränken, die doofe WirtshausWiesn darf stattfinden", schrieb ein anderer. Die Stadt hatte als Konsequenz auf den überschrittenen Signalwert von 50 die Maskenpflicht im Unterricht an weiterführenden Schulen verlängert.
Auch Ärzte zeigten sich skeptisch. "Angesichts steigender Zahlen an Neuinfektionen mit Covid-19 sehe ich eine "Wiesn light" eher skeptisch bis sorgenvoll", sagte der Chefarzt der Klinik für Infektiologie in der München Klinik Schwabing, Clemens Wendtner bereits vor wenigen Tagen.
Ude verteidigte die "WirthausWiesn". "Ich bestreite, dass von einer derart kontrollierten und disziplinierten Gastronomie eine Gefahr ausgeht." Es gebe ganz andere Zusammenkünfte, etwa an der Isar, bei denen weder Masken getragen noch Abstände eingehalten würden. Der Sprecher der Wiesnwirte, Peter Inselkammer sagte, es sei spürbar, dass viele Menschen den ursprünglich geplanten Oktoberfeststart begehen wollten. "Die Leute wollen feiern." Es sei besser, wenn dies in den Wirtshäusern kontrolliert und unter Einhaltung der Regeln geschehe als bei privaten Partys. Die Wirte gingen äußerst verantwortlich mit der Situation um.
Am Vormittag waren anstelle der Wiesnwirte Klimaschützer auf der Theresienwiese eingezogen: Stilecht in Tracht, aber mit einer elektrischen Kutsche und rollenden Bäumen. Man wolle zeigen, was Bayern noch sei, sagte ein Organisatorin. "Auch kleinbäuerliche Landwirtschaft ist Tradition - und trägt zum Klimaschutz bei."
Schon seit Wochen stehen auf verschiedenen Plätzen in der Stadt Karussells. Ein 90 Meter hohes Kettenkarussell am Olympiagelände, beim Ostbahnhof die Kult-Achterbahn "Wilde Maus", ein Riesenrad am Königsplatz. Schießbuden, Zuckerwatte und Lebkuchenherzen - der "Sommer in der Stadt" soll Schaustellen und Marktkaufleuten ein wenig Umsatz ermöglichen. Viele Riesenradgondeln bleiben am Samstag allerdings leer. Das Geschäft sei "in Ordnung", hieß es an einem Kettelflieger. Trachtengeschäften meldeten zwar ein etwas belebtes Geschäft - jedoch weit unter früheren Jahren.
Dafür läuft Wiesnbier gut - teils, so berichteten Brauer, sogar besser als sonst. Für viele gab es heuer Wiesn "dahoam" - wer nicht mehr ans Steuer muss, kann ein Bier mehr trinken.
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