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Olympische Spiele in Paris: So euphorisch ist die Stimmung in Frankreich

Olympia 2024

Oh là là, Olympia! Frankreich badet in Glückshormonen

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    Die Französinnen und Franzosen haben sich mit den Olympischen Spielen in ihrem Land versöhnt. Und noch mehr: Sie lieben sie.
    Die Französinnen und Franzosen haben sich mit den Olympischen Spielen in ihrem Land versöhnt. Und noch mehr: Sie lieben sie. Foto: Julien de Rosa, afp

    Sie schenken sich nichts, die sechs Athleten auf dem Spielfeld. Ständig in Bewegung, schirmen sie ihre Gegner ab und tricksen diese mit raschen Drehbewegungen aus. Blitzschnell fliegt der Basketball auf engstem Raum von Hand zu Hand und immer wieder in den Korb. Drei gegen drei spielen sie an diesem Nachmittag auf dem ehrwürdigen Place de la Concorde mitten in Paris, Frankreich gegen die Niederlande. Das hier ist nicht der große Basketballsport mit seinen amerikanischen Superstars, sondern eine noch sehr junge Variante, die erst für Tokio 2021 zur olympischen Disziplin wurde. Und doch sind die Ränge voll – egal, wer spielt, egal, zu welcher Tageszeit. Das Publikum hat seinen Favoriten und feiert jeden Korb – egal, wer trifft.

    „Bravo! Los, los!“ Gabriel und Agnès, mit aufgemalten Frankreich-Flaggen auf den Wangen, reißen alle paar Minuten ihre Arme hoch. Das Paar ist für diesen Tag aus dem gut 200 Kilometer entfernten Le Mans nach Paris gefahren. Ob sie Fans von 3x3-Basketball sind? Sie lachen. „Wir kennen jetzt so ungefähr die Regeln. Für uns ist das neu, aber wir haben günstige Karten bekommen und das als einmalige Chance gesehen, Olympia zu erleben.“ Es klingt abgedroschen, aber: Dabei sein ist alles. Wenn nicht jetzt, wann dann?

    Die Zuschauerränge bei diesen 33. Olympischen Sommerspielen sind durchweg gut besetzt

    Für die Spiele haben sie den Place de la Concorde, den größten Platz in Paris, der in Normalzeiten ein viel befahrener Verkehrsknotenpunkt ist, autofrei und zu einem Zentrum urban-trendiger Sportarten gemacht. BMX Freestyle, die Skateboard-Wettbewerbe, Breakdance und eben 3x3-Basketball finden hier statt. Wasserzerstäuber unterhalb des Obelisken mit seiner vergoldeten Spitze verschaffen den Zuschauerinnen und Zuschauern in diesen heißen Sommertagen Abkühlung. An einem Stand, dessen Markise Schatten spendet, legt ein DJ Musik auf, eine Gruppe freiwilliger Helfer, in mint-dunkelgrünen T-Shirts gut als solche erkennbar, tanzt ausgelassen dazu. Und in der Ferne grüßt das obere Drittel des Eiffelturms herüber.

    Der berühmte Place de la Concorde einmal ganz anders: Was sonst ein Verkehrsknotenpunkt ist, ist vorübergehend Heimat olympischer Trendsportarten wie 3x3-Basketball.
    Der berühmte Place de la Concorde einmal ganz anders: Was sonst ein Verkehrsknotenpunkt ist, ist vorübergehend Heimat olympischer Trendsportarten wie 3x3-Basketball. Foto: Birgit Holzer

    Die Zuschauerränge bei diesen 33. Olympischen Sommerspielen sind durchweg gut besetzt. Was heißt gut besetzt: 9,2 Millionen Tickets wurden bislang verkauft, bis zum Ende der Wettkämpfe an diesem Sonntag sollen es den Organisatoren zufolge etwa 13 Millionen werden. Der bisherige Rekord lag bei 8,3 Millionen verkauften Karten 1996 in Atlanta. Auch die vielen Mauern, Zäune und Sicherheitsschleusen, die jeder passieren muss, der zu den Wettkampfstätten vordringen will, können die Olympia-Begeisterung nicht bremsen. Sei es beim Bogenschießen, am Wildwasserkanal, bei der Skateboard-Akrobatik, an der Radstrecke, in der Schwimmhalle oder im Leichtathletik-Stadion. Das war so nicht unbedingt zu erwarten. Diese Spiele waren im Vorfeld mit vielen Fragezeichen versehen – organisatorisch, aber auch, was die Stimmung betrifft. Ist ja nicht so, dass Frankreich derzeit keine Probleme hat – politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich.

    Und jetzt das. Kaum ein Wettbewerb, bei dem nicht Gänsehaut-Atmosphäre herrscht. Das gilt natürlich besonders dann, wenn Sportlerinnen und Sportler die Farben Frankreichs tragen. Dann gibt es kein Halten mehr. Allez les Bleus! Besonders eindrücklich war das in der ersten Olympia-Woche in der La Défense Arena zu beobachten. Dort krönte sich Léon Marchand zum neuen französischen Nationalhelden. Viermal gewann der 22-jährige Schwimm-Superstar Gold. Jeder dieser Erfolge wirkte auf die Stimmung im Land wie eine gigantische Injektion von Glückshormonen. Wenn Marchand im Becken das Wasser verdrängte, bebten zwölf Kilometer Luftlinie entfernt im Olympiastadion die Tribünen, weil das dortige Publikum seine Rennen auf dem Handy verfolgte; einmal musste wegen des Lärms sogar der Zehnkampf unterbrochen werden. Ähnlich enthusiastisch lief es bei den Auftritten von Teddy Riner, der mit vier Olympiasiegen seit 2012 nun der erfolgreichste Judoka der Geschichte ist.

    Das französische Publikum feiert aber nicht nur die eigenen Landsleute frenetisch, sondern verteilt seine Gunst ausgesprochen fair über all die anderen rund 10.000 Athletinnen und Athleten, die in Paris am Start sind. Durch ihre zentrale Lage ist die französische Hauptstadt ein Anlaufpunkt für Sportfans aus ganz Europa. Jede Menge deutsche, spanische, italienische, englische oder niederländische Fahnen sind auf den Rängen zu sehen. Zudem sind überraschend viele US-Amerikaner und Australierinnen vor Ort, die sich von der langen Anreise nicht abhalten ließen. Angesichts der teils sehr stattlichen Ticketpreise ist es bemerkenswert, dass das Stade de France im Vorort Saint-Denis regelmäßig schon am Vormittag mit 70.000 Leichtathletik-Fans ausverkauft ist – obwohl da nur die Vorläufe beziehungsweise Qualifikationen stattfinden. Das gleiche Bild gab es in der Schwimmhalle. Das umgebaute Rugbystadion bot immerhin 18.000 Zuschauerinnen und Zuschauern Platz. 

    Die Menschen in Paris werden in diesen Tagen vom Erfolg dieser Spiele regelrecht überrumpelt

    Dementsprechend groß ist die Begeisterung aufseiten der Athletinnen und Athleten. Die meisten von ihnen sind derartige Menschenmengen in ihrem sportlichen Alltag nicht gewohnt. Sie rudern, schießen, fahren, schwimmen oder laufen normalerweise vor den Augen ihrer Trainer und Großeltern. Die plötzliche riesige Aufmerksamkeit kann lähmen – oder aber Kräfte freisetzen. Die Gastgeber beflügelt die allgemeine Euphorie offensichtlich. Hinter den Sport-Großmächten USA und China hat sich Frankreich zwischenzeitlich auf Platz drei des Medaillenspiegels katapultiert. Deutschland hinkt noch hinterher. Die bisherige Medaillenausbeute: Eher so lala statt oh là là.

    Die Menschen in Paris werden in diesen Tagen vom durchschlagenden Erfolg dieser Spiele regelrecht überrumpelt. Die Eröffnungszeremonie übertraf alle Erwartungen, trotz strömenden Regens und einer losgetretenen Debatte um eine vermeintliche Parodie des letzten Abendmahls – tatsächlich wurde laut Regisseur Thomas Jolly ein Festgelage der griechischen Götter dargestellt. Die Angriffe auf ihn und die in der Rolle des Apollo teilnehmende DJ Barbara Butcher in den sozialen Medien nahmen solche Auswüchse an, dass beide Klagen wegen Cybermobbing und Morddrohungen eingereicht haben. Doch in einer Umfrage gefiel 86 Prozent der Menschen in Frankreich die spektakuläre Schau zum Auftakt der Spiele.

    86 Prozent der Franzosen waren von der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele angetan.
    86 Prozent der Franzosen waren von der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele angetan. Foto: dpa, afp

    Ein Großteil der Franzosen ist stolz auf die glanzvollen Wettkampfstätten, die nun bei den Fernseh-Übertragungen weltweit zur Geltung kommen: das Beachvolleyball-Feld unter dem Eiffelturm, das Schloss von Versailles als Kulisse für die Reitwettbewerbe, die Fechtturniere im Grand Palais. „Es geht über reine Schönheit hinaus, das ist Magie“, kommentierte eine irische Reporterin gerührt, als die Fechter die monumentalen Treppen des Ausstellungsgebäudes aus der Belle Époque hinabschritten.

    Auch in den Straßen, ob beim Triathlon oder den Radrennen durch die Stadt, drängen sich zigtausende Zuschauer, um die Athletinnen und Athleten anzufeuern. Und nicht nur sie. Eines Abends wurden am Louvre spontan alle Radfahrer und Nutzer von Elektrorollern beklatscht, die gerade vorbeifuhren und nicht wussten, wie ihnen geschah. Paris, deren Bewohnerinnen und Bewohner oft so gestresst und mit sich selbst beschäftigt sind, hat sich locker gemacht. Es feiert diesen Olympia-Sommer, der in sportlicher Hinsicht ohne historische Rekorde auskommt, um als gelungen betrachtet werden zu können.

    Was war im Vorfeld nicht gewarnt und kritisiert worden angesichts dieser Olympischen Spiele mitten in der Stadt?

    Was war im Vorfeld nicht gewarnt und kritisiert worden angesichts dieser Spiele mitten in der Stadt? Die Sicherheitsvorkehrungen seien nicht ausreichend, um ein Attentat abzuwenden, das öffentliche Nahverkehrssystem werde zusammenbrechen, Chaos herrschen. Von Enthusiasmus war lange nichts zu spüren. „Wir werden nicht bereit sein“, hatte sogar die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo noch im November verkündet – und sich später wiederum über all die Kritiker beklagt, die schlechte Laune verbreiteten. „Mich beunruhigt, dass wir abgehobene Olympische Spiele ohne Publikum haben werden“, warnte der Sprecher des rechtsextremen Rassemblement National, Laurent Jacobelli, noch wenige Tage vor dem Start.

    Eingetreten sind die Befürchtungen zumindest in der ersten Woche nicht. Die Polizei und Gendarmen sind allgegenwärtig und vermitteln das Gefühl von Sicherheit – trotz der bestehenden Risiken. Die Zahl der Diebstähle mit Gewaltanwendung ging um ein Viertel zurück, wie das Innenministerium stolz vermeldete. Die französischen Medien veröffentlichen Reportagen über Pariser, die es bitter bereuen, dass sie weggefahren sind, um den Spielen zu entgehen. Die 34-jährige Valentine ist eine von ihnen. „Ich dachte, es würde der Horror, sich in der Stadt fortzubewegen – und letztlich scheint alles gut zu funktionieren“, bedauert sie. „Es ist, als hätte ich es ausgeschlagen, bei einer großen Party teilzunehmen.“ Eine Party, die nur alle 100 Jahre kommt, wie es heißt: Die letzten Olympischen Spiele richtete Paris 1924 aus.

    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (Mitte) feierte den vierten Olympiasieg seines Landsmanns Léon Marchand auf der Tribüne der Schwimmhalle.
    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (Mitte) feierte den vierten Olympiasieg seines Landsmanns Léon Marchand auf der Tribüne der Schwimmhalle. Foto: Marcus Brandt, dpa

    In Frankreich erscheinen sie auch wie eine hochwillkommene Zäsur in einer Zeit der politischen Unsicherheit nach den Neuwahlen Ende Juni. Die Rechtsextremen hatten da einen historischen Sprung gemacht, mehr Abgeordnetensitze denn je erobert – auch wenn sie in der Stichwahl nicht an die Macht kamen. Seitdem sind die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung unklar und die Minister auf Abruf. Wie und mit wem Präsident Emmanuel Macron weiter regieren will, ist noch immer ein großes Rätsel.

    Präsident Emmanuel Macron will frühestens Ende August einen neuen Premierminister ernennen

    Macron hat erst einmal eine „politische Pause“ ausgerufen. Einen neuen Premierminister will er frühestens Ende des Monats ernennen – am 28. August beginnen die Paralympischen Spiele. Bis dahin sonnt er sich im Glanz der neuen Nationalhelden, herzt und umarmt sie, ist beim letzten Auftritt von Léon Marchand mit seiner ganzen Entourage durch die Mixed-Zone marschiert, um dem jungen Schwimmer persönlich zu gratulieren. Dafür kam der Staatschef sogar aus seiner Ferienresidenz in Südfrankreich zurück in die Hauptstadt.

    Eine Karikatur macht im Internet die Runde, bei der ein Athlet gefragt wird, warum er trotz seiner Hoffnungen auf eine Goldmedaille aufgegeben habe. „Ich wollte mich nicht von Macron durchkneten lassen“, antwortet er. Zwar sind die Umfragewerte des Präsidenten zuletzt um zwei Prozentpunkte auf 27 Prozent gestiegen, was positive Meinungen über ihn betrifft. Doch allen ist klar: Paris und Frankreich erleben Ausnahmezeiten. Sie werden enden. Aber die Erinnerungen bleiben von diesem so überraschend schönen, so ungewöhnlich harmonischen und freudigen Olympia-Sommer.

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