Wenn sich der Journalist und Dokumentarfilmer Chris Atkins an seine Haftstrafe in Wandsworth erinnert, einem Gefängnis im Süden Londons, in dem im Frühjahr 2022 auch Boris Becker für vier Wochen einsaß, findet er keine guten Worte: „Es war wirklich ziemlich widerlich, als würde man eine Zeitreise in die Vergangenheit antreten. Es war eine schreckliche Erfahrung“, sagte er damals unserer Redaktion. Tatsächlich sind viele Haftanstalten in England und Wales nicht nur sanierungsbedürftig, sondern auch völlig überfüllt. Daher hat die neu gewählte britische Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer am Montag einen Notfallplan in Kraft gesetzt: Mit der „Operation Early Dawn“ können Angeklagte in Polizeigewahrsam gehalten werden, bis ein Platz in einer Haftanstalt frei wird. Erst dann müssten sie vor einem Amtsgericht erscheinen, hieß es.
Der Schritt war nach den gewalttätigen rechtsextremen Ausschreitungen Ende Juli und Anfang August notwendig geworden. Aufhänger für die Krawalle war ein Amoklauf gewesen, bei dem ein 17-Jähriger drei Kinder im Küstenort Southport getötet hatte. Die Regierung war schnell und hart gegen Teilnehmer der Ausschreitungen in zahlreichen Städten vorgegangen. Rund 1000 wurden festgenommen, mehr als 100 Menschen sind bereits verurteilt worden - zum Teil zu mehrjährigen Haftstrafen. Damit konnte Starmer zwar die Lage auf den Straßen beruhigen, doch die Situation in den Gefängnissen hat sich weiter verschärft.
Labour macht die konservative Vorgängerregierung für die Zustände in den Anstalten verantwortlich. „Wir haben ein Justizsystem geerbt, das in der Krise steckt“, sagt der zuständige Staatssekretär James Timpson. „Deshalb waren wir gezwungen, schwierige, aber notwendige Entscheidungen zu treffen, um es am Laufen zu halten.” Über die Jahre sei das Budget für Gefängnisse immer weiter gekürzt worden, betont Ex-Häftling Chris Atkins. „Deshalb fehlt es dort an allen Ecken und Enden.” Nach der Statistik einer Wohltätigkeitsorganisation liegt die Zahl der Häftlinge in England und Wales bei knapp 88.000. Das seien rund 8.000 mehr als vom Justizministerium vorgesehen. Die Situation führe zu „weitverbreiteter Gewalt hinter Gittern”, sagte Labour-Justizministerin Shabana Mahmood bereits im Juli. Um die überfüllten Haftanstalten zu entlasten, hatte die neue Regierung zuvor angekündigt, einige Gefangene bereits nach 40 Prozent ihrer Haftzeit freizulassen. Üblich sind mindestens 50 Prozent. Diese Regelung gilt nicht für Häftlinge, die wegen Terrorismus, Sexualdelikten, häuslicher Gewalt oder schwerer Körperverletzung einsitzen.
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