Nach dem verheerenden Erdbeben in Marokko bietet sich in der Katastrophenregion ein zwiespältiges Bild: Während in Marrakesch schon wieder Touristengruppen durch die Altstadt schlendern, suchen Rettungsmannschaften rund 70 Kilometer entfernt in den abgelegenen Dörfern des Atlasgebirges nach Überlebenden.
Inzwischen kamen die ersten internationalen Helfer in Marokko an, um bei der Bergung zu helfen. Spanien schickte eine Katastrophenschutzeinheit des Militärs. Auch Lastwagen-Konvois mit Hilfsgütern machten sich auf den Weg in die Unglücksregion. Andere humanitäre Organisationen aus europäischen Ländern warteten am Sonntag noch auf grünes Licht der marokkanischen Behörden.
Erdbeben in Marokko: Schon mehr als 2000 Tote geborgen
„Die nächsten 24 bis 48 Stunden sind entscheidend, um Leben zu retten“, sagt Caroline Holt von der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC). Zudem müsse man Trinkwasser und Lebensmittel in die Dörfer bringen: „Wir müssen dafür sorgen, dass sich innerhalb der Katastrophe nicht eine weitere Tragödie ereignet.“
Luftbilder des marokkanischen Fernsehens zeigen, dass zahlreiche Ortschaften im bis zu 4000 Meter hohen Gebirge praktisch verschwunden sind. Wo früher Häuser standen, sieht man nur noch Ruinen und Trümmer. Straßen, die sich in Serpentinen durch die Berge winden, sind zerstört oder durch Steinbrocken blockiert. Brücken stürzten ein. Strom-, Wasser- und Telekommunikationsleitungen funktionieren nicht.
„Es ist sehr schwierig, zu einigen Gebieten vorzudringen“, erklären die Helfer der IFCR. Auch deswegen wird nach dem schlimmsten Erdbeben in Marokko seit Jahrzehnten das Ausmaß dieses Dramas nur langsam sichtbar. Nach Angaben des marokkanischen Innenministeriums wurden bisher mehr als 2000 Leichen geborgen. Mehrere Tausend Menschen wurden verletzt. Doch die Opferzahlen dürften weiter steigen.
Traditionelle Bauweise wurde vielen zum Verhängnis
Nur bruchstückhaft werden Einzelheiten bekannt: Etwa aus der Bergprovinz Chichaoua, die westlich Marrakeschs liegt. Allein hier wurden in einem Dorf 65 Leichen geborgen und in einem Massengrab beigesetzt. Mit Hubschraubern und Drohnen wird in den einsam gelegenen Ortschaften nach Überlebenden gesucht, berichtet der marokkanische Fernsehsender 2M. In der ganzen umliegenden Provinz Chichaoua soll es Hunderte von Toten gegeben haben. Viele Häuser in der Bergregion sind nur aus Lehm, Stroh und Steinen gebaut. So haben es die Menschen in dieser kargen Bergregion schon immer gemacht. Doch diese traditionelle Bautechnik wurde jetzt vielen Menschen zum Verhängnis.
Nach Schätzung der marokkanischen Behörden sind mindestens zehn Provinzen von dem Erdbeben betroffen. Am schlimmsten traf es die Provinz Al Haouz, in der auch das Epizentrum des Bebens lag. Dort wurden bisher die meisten Toten geborgen. Viele Opfer gab es auch in den Provinzen Taroudant, Chichaoua und Ouarzazate. Quarzazate im Süden ist für viele Marokko-Touristen der Ausgangspunkt für die beliebten Touren durch die Sahara-Wüste. Weitere – wenn auch wenige – Tote wurden aus den Provinzen Marrakesch, Azilal, aus der Badeurlaubsregion Agadir sowie aus Casablanca, Al Youssufia und Tinguir gemeldet.
Marokkos König Mohammed VI. versprach den Menschen nach einer Sitzung des marokkanischen Krisenstabs schnelle Hilfe. Die Bergungsarbeiten müssten verstärkt und die betroffene Bevölkerung mit allem Lebensnotwendigen und Notunterkünften versorgt werden, sagte er in einer schriftlichen Erklärung. Er ordnete eine dreitägige Staatstrauer an. Die Fahnen des Landes wehen auf halbmast.
Am Sonntag erzittert bei einem Nachbeben in Marokko wieder die Erde
Am Sonntagmorgen erzitterte in Marokko erneut die Erde. Doch es blieb beim Schrecken. Das Nachbeben der Stärke 4,5 auf der Richterskala richtete keine größeren Schäden an. Aus Angst vor neuen Erdstößen verbrachten viele Menschen die vergangenen Nächte im Freien. Der Schock nach dem zerstörerischen Erdbeben der Stärke sieben, das sich am Freitagabend kurz nach 23 Uhr ereignete, sitzt immer noch tief.
Auch in der Touristenhochburg Marrakesch war das Nachbeben am Sonntag zu spüren. Trotzdem versuchte die Millionenstadt, die jedes Jahr von Hunderttausenden europäischen Touristen besucht wird, wieder zur Normalität zurückzukehren. Trümmer wurden beseitigt. Der Verkehr rollt bereits wie immer, die meisten Restaurants und Basargeschäfte öffnen wieder, Touristengruppen schieben sich durch die Stadt – als ob nichts geschehen wäre. Eingestürzte Gebäude werden zur neuen Fotoattraktion. Vor allem in der historischen Altstadt, in der Medina, fielen einige Gebäude komplett zusammen, viele andere wurden beschädigt. Die Altstadt mit der mittelalterlichen Koutoubia-Moschee, dem Wahrzeichen der Stadt, gehört zum Unesco-Weltkulturerbe.
Trotz der erheblichen Schäden in der Medina kamen die meisten Touristen, die sich während des Bebens in der Altstadt aufhielten, mit dem Schrecken davon. Bisher wurden keine Todesopfer oder Verletzte unter den ausländischen Besuchern bekannt. Manche Urlauber entschieden nach der Naturkatastrophe, vorzeitig nach Hause zu reisen. Was allerdings derzeit nicht einfach ist: Flüge Richtung Europa sind weitgehend ausgebucht. Viele Reisende hingen deswegen am Wochenende auf dem Airport in Marrakesch fest. Einige Staaten, wie etwa Portugal, schickten deswegen Militärtransporter, um Landsleute heimzufliegen.
Andere Touristen setzten ihren Urlaub in Marrakesch fort. So wie die beiden Französinnen Fabienne und Jasmine, die in ihrem Altstadthotel von dem Erdbeben überrascht wurden. „Das Gebäude neben unserem Hotel stürzte zusammen, wir müssen über die Trümmer klettern, um zu unserem Zimmer zu gelangen“, erzählten sie dem spanischen Rundfunksender RTVE. „Jetzt schlafen wir mit Anziehsachen und Schuhen – für den Fall, dass wir schnell rausrennen müssen.“