Fast täglich besuchen westliche Spitzenpolitikerinnen und -politiker derzeit die Türkei, um dem Land nach der Erdbebenkatastrophe Hilfe zuzusagen – und um gleichzeitig zu sondieren, ob sich Ankara im Streit um die Nato-Norderweiterung bewegt. Nach Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und US-Außenminister Antony Blinken reisen Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Innenministerin Nancy Faeser an diesem Dienstag ins Erdbebengebiet. Und siehe da: Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu stellte am Montag eine Erholung der problembeladenen Beziehungen der Türkei zu USA, Europa und der Nato in Aussicht.
"Solidarität in schweren Zeiten hat immer eine positive Wirkung", sagte Cavusoglu nach einem Gespräch mit seinem US-Kollegen Blinken in Ankara. Blinken hatte nach seinem Besuch im Katastrophengebiet versichert, Amerika stehe an der Seite der Türkei. Kurz zuvor hatte Stoltenberg bei seinem Besuch in der Türkei die Hilfsmaßnahmen der Allianz in Südostanatolien aufgezählt und dabei ausdrücklich Finnland und Schweden erwähnt. Die zwei Länder hätten aktive Solidarität demonstriert, sagte Stoltenberg. Mit dem Hinweis auf die Hilfe der Nordländer, die wegen des türkischen Vetos bisher nicht der Nato beitreten können, erhöhte Stoltenberg den Druck auf die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der Nato-Erweiterung zuzustimmen.
Von einem Krieg zwischen der Türkei und Griechenland ist keine Rede mehr
Wie einflussreich die Erdbeben-Diplomatie sein kann, zeigte sich in den ersten Tagen nach dem Beben bei einem Besuch des griechischen Außenministers Nikos Dendias bei Cavusoglu. Die Türkei hatte Griechenland wegen eines Gebietsstreits in der Ägäis in den vergangenen Monaten mehrmals mit Krieg gedroht. Doch nach dem Beben schickten die Griechen sofort Rettungsteams in die Türkei. Nun ist von Krieg keine Rede mehr, im Gegenteil. Cavusoglu sagte Dendias, die Türkei und Griechenland müssten ihre Beziehungen verbessern. Schon 1999 hatte ein schweres Beben bei Istanbul eine Phase der Aussöhnung zwischen den beiden Nachbarn eingeleitet.
Derweil sind die Sucharbeiten in den meisten betroffenen Provinzen in der Türkei zu Ende gegangen. Nur in Kahramanmaras und Hatay werde weiter nach Verschütteten gesucht, sagte der Vorsitzende der Katastrophenschutzbehörde Afad, Yunus Sezer. Insgesamt mehr als 47.000 Tote wurden inzwischen registriert, mehr als 41.000 allein in der Türkei.
In Syrien seien 8,8 Millionen Menschen von den Folgen betroffen, schrieb die stellvertretende UN-Syrienbeauftragte Najat Rochdi auf Twitter. Der Afad-Vorsitzende Sezer schätzt, dass mehr als 1,2 Millionen Menschen die betroffene Region in der Türkei verlassen haben. Über eine Million Betroffene seien derzeit in Notunterkünften. US-Außenminister Blinken erklärte, dass die amerikanische Regierung die Erdbebenhilfe für die Türkei und Syrien um weitere 100 Millionen US-Dollar (rund 93 Millionen Euro) auf insgesamt 185 Millionen Dollar aufstocke. Auch die Nato beteiligt sich an den Hilfsaktionen und bereitet in der Türkei den Aufbau eines Camps mit Notunterkünften für mindestens 4000 Menschen vor.
Die Menschen in der Türkei und in Syrien befürchten weitere Erdbeben
Neben der existenziellen Not und der Trauer über tote Angehörige ist es auch die Angst vor dem nächsten Beben, die den Betroffenen zu schaffen macht. Insgesamt seien innerhalb von 13 Tagen nach dem Beben mehr als 6000 Nachbeben registriert worden, teilte Afad mit. So viele würden normalerweise in vier Monaten gezählt.
Am 6. Februar hatte ein Beben der Stärke 7,7 die Südosttürkei und den Norden Syriens erschüttert, Stunden später folgte ein zweites Beben der Stärke 7,6. (mit dpa)