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Medizin: Das Blut wird knapp: Ein Engpass mit verheerenden Folgen

Medizin

Das Blut wird knapp: Ein Engpass mit verheerenden Folgen

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    Menschliches Blut ist ein rares Gut. Dabei benötigen es täglich viele chronisch kranke Menschen.
    Menschliches Blut ist ein rares Gut. Dabei benötigen es täglich viele chronisch kranke Menschen. Foto: Rolf Vennenbernd, dpa (Symbolbild)

    Der Tag, der das Leben von Ferhan Sikli verändern sollte, ist ein Mittwoch. Ein ganz normaler Mittwoch im April 2008. Ferhan

    Sikli will den Fahrer des Müllwagens fragen, was als Nächstes zu tun ist, die Tonnen hatten sie alle geleert. Also klettert er zu ihm nach oben, hält sich am Außenspiegel des Lastwagens fest. Wegen des lauten Motors hört der Mann ihn aber nicht. Sikli beschließt, später mit ihm zu sprechen, und steigt wieder nach unten – und plötzlich gibt der Fahrer Gas. „Er ist losgefahren und hat mich überrollt“, sagt Sikli heute, 14 Jahre nach dem Unfall, der alles verändert hat. Der Schmerz überwältigt ihn, viel bekommt er nicht mehr mit. Nur, dass er in einen Hubschrauber gebracht wird. „Als ich wieder wach wurde, lag ich auf der Intensivstation. Meine Wade war zerquetscht.“ Was Sikli da noch nicht weiß: Sein Bein wird bald zur Nebensache werden.

    Der junge Mann hat viel Blut verloren, er braucht eine Transfusion. Die Ärzte lassen seine Blutgruppe bestimmen – und können nicht glauben, was sie da lesen. Sikli hat die extrem seltene

    Blutgruppe "Bombay" ist rar in Europa

    In Europa hat dem Roten Kreuz zufolge nur einer von einer Million Menschen die Blutgruppe „Bombay“, folglich sind Blutkonserven rar. Doch auch bei den „gewöhnlichen“ Blutgruppen A, B, 0 und AB kommt es längst immer wieder zu Engpässen. Denn: „Die Spendenbereitschaft sank in den vergangenen Wochen kontinuierlich“, sagt Patric Nohe. Er ist der Pressesprecher des Blutspendedienstes des Bayerischen Roten Kreuzes (BSD), der nach eigenen Angaben rund 75 Prozent der bayernweiten Versorgung mit überlebenswichtigen Blutpräparaten sichert.

    Der BSD verzeichnet Nohes Angaben zufolge bei den Spenden zurzeit Einbrüche zwischen 20 und 30 Prozent. In diesen Tagen sei die Lage sogar besonders bedrohlich: „Aktuell ist die Versorgung gefährdet.“ Denn es ist wieder Reisezeit. Und zwar eine außergewöhnliche: „So viele wollen genau jetzt in diesen Wochen in den Urlaub, schließlich weiß man nicht, was der Herbst mit Blick auf die Corona-Pandemie bringt.“ Wer könne schon sagen, ob Wegfahren oder Wegfliegen dann noch möglich ist. Und Nohe hat für das Fernweh durchaus Verständnis. „Allerdings geraten dadurch die Blutspendetermine leider schnell ins Hintertreffen. Wir aber brauchen regelmäßige Spenden.“

    Dabei ist auch der BSD vom Fachkräftemangel betroffen. Denn nicht nur in Kliniken fehlen Pflegekräfte und medizinisch-technische Assistentinnen und Assistenten. „Was oft vergessen wird: Auch der Bayerische Blutspendedienst sucht händeringend nach Fachkräften, um noch mehr Spendetermine anbieten zu können“, sagt Nohe, ergänzt jedoch: „Aktuell gilt es aber vor allem, die angebotenen Spendetermine überhaupt auszulasten.“

    Hinzu kommt: Seit die Corona-Inzidenzen gesunken sind, sei der Bedarf der Kliniken „sprunghaft angestiegen und nun anhaltend sehr hoch“, erklärt Nohe weiter. Denn noch immer würden viele Operationen, die aufgrund der Pandemie verschoben wurden, nun nachgeholt. Dabei werden auch unabhängig von Operationen täglich viele Blutkonserven gebraucht. Vor allem für chronisch kranke Menschen. Allein in Bayern seien täglich etwa 2000 nötig. Bundesweit liege der tägliche Bedarf bei rund 15.000. Allerdings seien in

    Denn in eine Lebenssituation, in der man Blut braucht, gerät man oft schneller, als man denkt: Im Schnitt ist jeder Dritte mindestens einmal in seinem Leben auf das Blut eines anderen Menschen angewiesen. Statistisch gesehen wird inzwischen das meiste Blut zur Behandlung von Krebspatienten benötigt. Es folgen Erkrankungen des Herzens, Magen- und Darmkrankheiten, Sportunfälle – oder, wie bei Ferhan Sikli, Verkehrsunfälle. Der 39-Jährige – kurze Haare, Vollbart – sitzt in einem grau-weiß karierten Flanellhemd vor seiner Handykamera und erzählt seine Geschichte. Wenn er von jenem Tag, an dem sein Leben diese dramatische Wendung nahm, spricht, wird er nachdenklich, schüttelt oft den Kopf. So, als könne er immer noch nicht fassen, dass sein Blut eine Rarität ist.

    Als er damals im Krankenhaus liegt, wird seine ganze Familie in die Klinik geholt. Die Ärzte, die bis dahin noch nie jemanden mit der Blutgruppe „Bombay“ gesehen haben, hoffen, dass irgendjemand aus der Familie auch betroffen ist und als Spender infrage kommt – doch diese Hoffnung zerschlägt sich.

    Irgendwann, mitten in der Nacht, kommt schließlich ein Arzt in Siklis Zimmer. „Er hat mir gesagt, dass sie tatsächlich passendes Blut gefunden haben“, erinnert sich Sikli. Und zwar in Ulm, mehr als 500 Kilometer entfernt.

    "Dramatische Engpässe" beim Blutspenden

    Aber nicht nur in diesem Fall, wo es um eine extrem seltene Blutgruppe geht, ist es oft schwer, eine passende Konserve zu finden. Dr. Wolfgang Geisser sprach schon im vergangenen Sommer von einem „dramatischen Engpass“. Der Ärztliche Direktor der Kreiskliniken Dillingen-Wertingen schlug bereits damals Alarm. Denn es mussten Operationen verschoben werden, da viel zu wenig Blutkonserven vorhanden waren. Auch Tumor-Patienten mussten warten. Und die Situation habe sich nicht wirklich entspannt, sagt er nun: „Wir arbeiten in einer anhaltenden Mangelverwaltung. Wir bekommen für die Routine aus München nicht genügend Blutkonserven.“ Zur Erklärung: Das Produktions- und Logistikzentrum des BSD befindet sich im fränkischen Wiesentheid. Aber auch im Institut für Transfusionsmedizin in

    Anders als beispielsweise das Uniklinikum Augsburg verfügen kleinere Krankenhäuser natürlich nicht über ein so großes Blutkonserven-Depot, „wir sind auf eine regelmäßige Belieferung viel stärker angewiesen“. Und gerade, wenn ein Patient behandelt werden muss, der eine seltenere Blutgruppe hat, werde es ganz schnell eng, erläutert Dr. Geisser die Lage. „Dann müssen wir Notfallbestellungen veranlassen und diese Transporte dann auf eigene Kosten durchführen lassen.“

    Im Universitätsklinikum Augsburg wiederum hat man im vergangenen Jahr zwar auch einen Engpass an Blutkonserven gespürt, dort habe sich die Lage aber entspannt: „Wir haben aktuell keine Probleme“, sagt Dr. Konstantinos Doukas, der kommissarische Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin und Hämostaseologie auf Nachfrage. Allerdings verfügt die Uniklinik auch über eine eigene Blutbank. Das heißt, Menschen spenden speziell für Patientinnen und Patienten an der Uniklinik und hier könne man sich über eine mangelnde Bereitschaft aktuell nicht beschweren. Dabei benötigt gerade der Maximalversorger in der Region wirklich viel Blut: Zwischen 350 und 400 Blutkonserven sind es in der Woche.

    In den Wertachkliniken mit ihren beiden Standorten Bobingen und Schwabmünchen – beide im Landkreis Augsburg – sind es sehr viel weniger: Es sind etwa zehn bis zwölf an jedem Standort in der Woche. Doch auch dort merkt man aktuell die Knappheit, sagt Chefarzt Dr. Markus Bolkart. Zwar habe man noch keine Operationen wegen fehlender Blutkonserven verschieben müssen und auch bei der Versorgung der Patientinnen und Patienten mit akuten anderweitigen Blutungsproblemen habe es bisher noch keine Schwierigkeiten gegeben, dennoch bekomme man auch in der Klinik in

    Dabei dürfe man nicht vergessen, erläutert Bolkart weiter, dass zumindest für viele Operationen heute im Schnitt deutlich weniger Blut benötigt werde als in früheren Zeiten, „aufgrund der atraumatischeren und zunehmend minimal-invasiven Operationstechniken“. Zudem sei man insgesamt zurückhaltender beim Einsatz von Blutkonserven, denn die Transfusionsforschung der letzten Jahrzehnte habe gezeigt, dass fremdes Blut neben dem – heutzutage sehr niedrigen – Infektionsrisiko auch anderweitige Nachteile für Patientinnen und Patienten berge. Es sei deshalb geboten, Nutzen und Risiken sehr genau gegeneinander abzuwägen.

    Eigenblutspenden sind seltener geworden

    Auch die vor Jahren noch häufig angewendete Eigenblutspende vor bevorstehenden Operationen werde heute kaum noch praktiziert, erläutert Anästhesist Bolkart im Gespräch mit unserer Redaktion. Sei es lange Zeit üblich gewesen, dass Patientinnen und Patienten vor einer Operation ausreichend eigenes Blut für sich selbst gespendet haben, wisse man heute: Bei einer kurzfristigen

    Ferhan Sikli ist damals, kurz nach seinem verheerenden Unfall, dringend auf eine Blutspende angewiesen. Und sie rettet ihn. Schon kurz nachdem er damals die Blutkonserve bekommt, geht es ihm besser. Dennoch: Ferhan Sikli bleibt über mehrere Wochen im Krankenhaus, wird immer wieder operiert. „Das war eine ganz schwere Zeit für mich“, erzählt er am Handybildschirm und hält für einen Moment inne. Dann sagt er: „Ich habe mir aber dann gesagt: Junge, du bist jung, topfit, du darfst dich nicht so gehen lassen. Du musst dich aufbauen.“ Sikli lächelt, als er von diesem Moment erzählt. Dem Moment, als er anfing zu kämpfen.

    Heute geht es Ferhan Sikli wieder gut. Sein Bein mache zwar noch manchmal Probleme, sagt er. Aber er komme zurecht. Früher war er leidenschaftlicher Fußballspieler, am Abend seines Unfalls kamen seine Mannschaftskollegen sogar ins Krankenhaus, in ihren Trikots. Heute kann Sikli nicht mehr selbst auf dem Platz stehen, sein Bein macht das nicht mit. Doch der Sport spielt noch immer eine wichtige Rolle in seinem Leben – Sikli trainiert jetzt Kinder.

    Wahrscheinlich wüsste Sikli seine Blutgruppe heute noch nicht

    Seit seinem Unfall hat sich Sikli viel mit dem Thema Blutspende befasst. Und gerade, weil er weiß, wie viel oft davon abhängt, dass es eine passende Konserve gibt, will er die Menschen darauf aufmerksam machen, wie wichtig es ist, Blut zu spenden. Er selbst mache das regelmäßig. Und in seiner Handyhülle trägt er immer seinen Blutspendeausweis bei sich, auf dem vermerkt ist, dass er eine besonders seltene Blutgruppe hat.

    Siklis Blut kommt aber auch anderen Menschen zugute, die ebenfalls die enorm seltene „Bombay“-Blutgruppe haben. „Einmal hat das Telefon geklingelt und man hat mir gesagt, dass eine schwangere Frau in der Klinik sei, die dringend meine Blutvorräte brauche“, erzählt er. „Ich freue mich, dass ich da helfen kann.“

    Warum gerade er eine so außergewöhnliche Blutgruppe hat, das wisse er nicht. „Man hat mir gesagt, dass das ein Gendefekt ist“, sagt Sikli und zuckt mit den Schultern. Bis zu seinem schweren Unfall vor 14 Jahren hatte er sich keinerlei Gedanken über seine Blutgruppe gemacht. Er wüsste sie wahrscheinlich heute noch nicht – wäre da nicht jener Mittwoch im April gewesen, an dem sich sein Leben von einer Sekunde auf die andere so sehr verändern sollte.

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