Wenn man die rund 100 Jahre alte U-Bahn-Station im Londoner Viertel Farringdon verlässt, blickt man auf den im vergangenen Jahr fertiggestellten Farringdon-Crossrail-Bahnhof. Ein modern anmutendes, kastenartiges Gebäude, geprägt von Glas und Beton. Überirdisch nur durch eine Straße getrennt, liegen technisch und historisch Welten zwischen den beiden Bauwerken im Osten der Londoner City und ihrem jeweils zugehörigen Tunnelsystem. Hier viktorianische, teils stickige Enge; dort großzügige, unterirdische Hallen. Hier Ziegel und honigfarbene Backsteine; dort gut isolierte, geschwungene Wände.
Erbaut wurde der neue Bahnhof in Farringdon als Teil der ebenfalls neuen „Elizabeth-Line“, benannt nach Queen Elizabeth II. Die Zug-Linie kann man sich als teilweise unterirdisch verlaufende S-Bahn vorstellen. Sie wird sich über mehr als 100 Kilometer vom Flughafen Heathrow im Westen durch einen 22 Kilometer langen Tunnel im Zentrum Londons bis weit in den Südosten der Stadt erstrecken, mit 41 Haltestellen, zehn davon neu. Am kommenden Dienstag wird der erste Strecken-Abschnitt der Linie, die ans U-Bahn-System angeschlossen ist, für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Kostenexplosion und Bauverzögerungen: Nicht alles lief rund
Geplant war dieses Datum nicht, räumt Mark Wild, Leiter des Transportprojekts „Crossrail“, ein. Eigentlich sollte die Linie schon 2018 fertig sein. Dann jedoch kam es zu Verzögerungen: zum einen durch den Tunnelbau, vorbei an bereits vorhandenen Linien im Untergrund, denen man „sich bis auf einen Meter“ genähert habe; zum anderen durch die Digitalisierung der Signaltechnik. Auch die Kosten kletterten: Statt 14,8 Milliarden Pfund (etwa 17,5 Milliarden Euro) werden sie schätzungsweise fast 19 Milliarden Pfund (22,5 Milliarden Euro) betragen.
Wenigstens scheint jetzt zumindest das Timing aus Sicht der Betreiber perfekt. Schließlich eröffne die Zug-Strecke zu einem Zeitpunkt, an dem „man die Pandemie hinter sich lässt“ und es das Jahr des 70. Thronjubiläums der Queen ist. Eben jene ließ es sich in dieser Woche nicht nehmen, die neue S-Bahn-Linie zu besichtigen und zu eröffnen. Die 96-Jährige begleitete ihren Sohn Prinz Edward zu dem Termin am Londoner Bahnhof Paddington, gekleidet in einem hellgelben Mantel und mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht.
Geschmeidig, leise und schnell: So fährt die neue S-Bahn
Einer, der bei dem Besuch der Monarchin dabei war, ist Mark Dewhirst. Der 36-jährige Ingenieur ist für die zentralen Bahnhöfe der Linie verantwortlich. Die Königin zu treffen, sei ein weiterer Höhepunkt in seiner Karriere gewesen, sagt er. Auch bei der Beschreibung einer Fahrt mit der S-Bahn gerät er ins Schwärmen. Geschmeidig sei sie, leise und schnell. Was sie von den älteren U-Bahnen in London unterscheide? „Wenn man die Circle Line nimmt, hat man häufig das Gefühl, dass man zwar fährt, aber eigentlich nicht vorankommt. Das ist hier anders“, erklärt er. Das Londoner U-Bahn-Netz, muss man dazu sagen, ist zwar das größte und älteste Europas, das Beliebteste ist es sicher nicht. Gerade morgens und abends stehen Fahrgäste oft dicht gedrängt. Es ist heiß, die Luft schlecht.
Die neue S-Bahn, die auf Karten und Schildern durch ein kräftiges Violett erkennbar ist, soll nun jedes Jahr rund 200 Millionen Menschen transportieren. „Die Kapazität der Elizabeth-Line entspricht der des gesamten öffentlichen Nahverkehrs in Berlin“, erläutert Projektleiter Mark Wild. Der Vergleich mit Deutschland kommt nicht von ungefähr. Denn tatsächlich spielte Technik und das Wissen aus Deutschland eine wichtige Rolle für das Projekt, zum Beispiel bei der Umsetzung der Signaltechnik.
Ins Zentrum fährt die Bahn aber noch nicht
Für die Tourismusexpertin Tracy Halliwell ist die S-Bahn, die mit 60 Stundenkilometern doppelt so schnell wie eine U-Bahn unter Hochhäusern, Museen und Theatern fährt, eine Attraktion an sich. Und das bereits jetzt. Der östliche Teil des Zentrums werde durch sie beliebter, betont auch Alexander Jan, Vorsitzender der Central District Alliance, einer Vereinigung von Unternehmen, Behörden und Verbänden. Menschen, die im Nordosten der Stadt wohnen, kommen künftig schneller und günstiger ins Zentrum.
Bis Besucherinnen und Besucher der Stadt für umgerechnet etwa 14 Euro von Heathrow aus in das neue Verkehrsnetz eintauchen können, wird es jedoch eine Weile dauern, vermutlich bis Herbst. Bislang führt die S-Bahn nur von Paddington in Richtung Südosten. Auch eine Haltestelle im Zentrum ist noch nicht betriebsbereit – aufgrund von Problemen mit dem Tunnelbau.