Gordon Richardson war drei Jahre alt, als er zusammenbrach, während er seinem Vater Gute Nacht sagen wollte. Es war das erste Anzeichen dafür, dass er an einem Virus erkrankt war, der sein Leben verändern sollte: dem Polio-Virus. Der heute 69-Jährige, der in Bristol im Südwesten Englands lebt, erinnert sich noch an diese Zeit. Er verbrachte Monate im Krankenhaus, eingezwängt in einem Gipskorsett. Zunächst war er fast komplett gelähmt. Dann konnte er nach und nach Teile seines Körpers wieder bewegen, aber nur oberhalb der Brust. „Ich sitze seit 66 Jahren im Rollstuhl.“
Die unheilbare Infektionskrankheit, von der überwiegend Kinder betroffen sind, gilt seit 2003 in Großbritannien dank der Polio-Impfung als ausgerottet. Nun aber schlagen Experten Alarm. Denn sie konnten Polio-Viren im Londoner Abwasser nachweisen. Verbreitet wurden sie wohl durch Menschen, die den Lebend-Impfstoff verabreicht bekommen haben. Eine Reihe positiver Testergebnisse, die bis Februar zurückreichen, deuten darauf hin, dass im Nordosten Londons womöglich eine Übertragung des Virus stattfindet, bestätigt Paul Hunter, Mediziner an der University of East Anglia in Norwich, gegenüber unserer Redaktion.
„Das ist erst einmal kein Grund zur Panik“, erklärt der Forscher. Denn da es sich dabei um eine durch den Lebend-Impfstoff ausgelöste Infektion handelt, seien die Symptome fast immer mild. „Die allermeisten Menschen werden nichts merken“, betont Hunter. Nur in sehr seltenen Fällen könne sie bei Menschen, „die nicht vollständig geimpft sind, zu Lähmungserscheinungen führen“, erklärt Vanessa Saliba, Epidemiologin bei der britischen Gesundheitsbehörde UK Health Security Agency. Bedenklich sei laut Hunter jedoch, dass das Virus, je länger es sich ausbreitet, auch mutieren und so gefährlicher werden könne.
Ist der Polio-Nachweis in London gar eine Folge des Brexit?
Doch wie konnte es zu der Ausbreitung kommen? Tatsächlich wird in Großbritannien schon seit Jahren ausschließlich der Tot-Impfstoff gegen Polio verabreicht. Damit sind Kinder geschützt, ohne in der Folge der Impfung zu erkranken. „In manchen Regionen der Welt, insbesondere in Teilen Afrikas, ist dies jedoch anders“, erklärt Hunter. Hier erhalten Kinder oft den Lebend-Impfstoff, der zwar leichter verabreicht werden kann, jedoch den Nachteil hat, dass die Krankheit nach der Impfung in abgeschwächter Form übertragen werden kann.
Experten gehen davon aus, dass die abgeschwächte Form des Virus, die man nun seit Wochen im Londoner Abwasser findet, über mehrere Menschen, die kürzlich eine Lebend-Impfung erhalten haben, in die britische Hauptstadt gelangen konnte. Manche Fachleute glauben sogar, dass die Verbreitung damit womöglich eine Folge des Brexit ist, da seitdem weniger Menschen aus Europa, dafür aber mehr Migranten aus anderen Regionen der Welt ins Vereinigte Königreich kommen. Als gesichert gilt diese These jedoch nicht.
Sicher ist jedoch, dass der Nachweis von Viren im Abwasser eine „wichtige Erinnerung an Eltern ist, dass sie ihre Kinder impfen lassen sollten“, betonte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan diese Woche. Denn tatsächlich sind insbesondere in London weniger Kinder mit den routinemäßigen Polio-Impfungen auf dem letzten Stand als im Rest des Landes, was Mutationen forciert. Experten machen dafür unter anderem die Pandemie verantwortlich, da Vakzine im Vereinigten Königreich unter anderem in Schulen verabreicht werden – und diese seit 2020 oft monatelang geschlossen waren.
Das Risiko einer neuen Ausbreitung von Kinderlähmung ist real
Das Risiko einer neuen Ausbreitung von Kinderlähmung ist real. Nachdem Afrika erst 2020 als polio-frei deklariert wurde, wurden unter anderem in Malawi dieses Jahr neue Fälle gemeldet. Sie wurden vermutlich aus Afghanistan eingeschleppt. „Kein Land ist davor gefeit, bis die Krankheit überall ausgerottet wurde“, warnte Oliver Rosenbauer von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf kürzlich. Die Organisation arbeitet aktuell mit Hochdruck an einer Strategie zur endgültigen Auslöschung der Krankheit. Bis 2026 sollen jedes Jahr 370 Millionen Kinder in 50 Ländern geimpft werden. In Deutschland ist die Situation verhältnismäßig gut. Die letzten beiden Poliofälle gab es 1990 und 1992, die Betroffenen kamen aus Ägypten und Indien.
Gordon Richardson hofft jedenfalls, dass die „schreckliche Krankheit“ noch zu seinen Lebzeiten eingedämmt werden kann. Deshalb „müssen wir uns schnell mit den durch Impfstoffe verursachten Poliofällen in Großbritannien befassen“, sagte er. „Ich wünsche niemandem meine Behinderung.“