In 30 Berufsjahren hat Thomas Preis einen derartigen Notstand noch nicht erlebt. Der Vorsitzende des Apothekerverbandes Nordrhein ist in Sorge. "Die Lage ist schlimm", sagte er schon vor einer Woche. Sie hat sich seitdem nicht verbessert, eher im Gegenteil. Von Hustenmittel über Antibiotika bis zum Blutdrucksenker: In deutschen Apotheken besteht bei vielen Medikamenten derzeit die Gefahr, dass sie nicht erhältlich sind. In einem Ausmaß, welches Sorge bereitet.
Notstand bei Medikamenten: So ist die Lage im Winter 2022 in Deutschland
Jede Person die derzeit in eine Apotheke geht, könnte von den Engpässen betroffen sein. Einige Medikamente sind nicht erhältlich, weswegen Kunden oftmals Alternativmittel angeboten bekommen. Laut einem Sprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) muss allerdings keine Patientin und kein Patient "unversorgt" die Apotheke verlassen. "Die Arzneimitteltherapie, die mit den noch verfügbaren Arzneimitteln möglich sein wird, kann auch zu Qualitätseinbußen führen", räumt er ein.
Ein Beispiel: Bei Magenproblemen wird gerne der Wirkstoff Pantoprazol eingesetzt. Dieser ist knapp, weswegen in einigen Apotheken auf Omeprazol ausgewichen werden muss. Ein Wirkstoff, der deutlich mehr Wechselwirkungen mit sich bringt.
Die Lage hat sich in den letzten Tagen, nach den Aussagen des Sprechers, womöglich weiter verschärft. "Aktuell muss jedes zweite Kassenrezept nachgearbeitet werden, weil Medikamente nicht lieferbar sind", sagte die Apothekerin Daniela Hänel der Bild: "Am Samstag musste ich drei Patienten wegschicken, weil keine Alternative da war und ich auch keinen Arzt erreichen konnte."
Liste: Diese Medikamente sind aktuell in Apotheken in Deutschland knapp
Die Datenbank des Bundesinistituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bietet ein dramatisches Bild: 318 Medikamente werden mit Lieferengpässen gelistet. Hintergrund ist, dass rund 80 Prozent der Medikamente, die in Deutschland verkauft werden, Generika darstellen. Dabei handelt es sich um günstige Kopien von bewährten Originalpräparaten. Und die Inhaltstoffe für viele dieser Generika sind knapp. Insgesamt sind in Deutschland etwa 100.000 Arzneimittel zugelassen.
In der BfArM sind unter anderem die folgenden Wirkstoffe gelistet, deren Knappheit besonders besorgniserregend ist:
- Schmerzmittel (betroffene Wirkstoffe: unter anderem Ibuprofen, Morphinsulfat, Fentanyl, Oxycodonhydrochlorid)
- Antibiotika (unter anderem Phenoxymethylpenicillin und Amoxicillin betroffen)
- Krebsmedikamente (unter anderem Brustkrebs-Medikamente betroffen)
- Blutdrucksenker (unter anderem Minoxidil und Quinaprilhydrochlorid betroffen)
- Diabetes-Medikamente (unter anderem Insulin aspart und Insulin lispro betroffen)
- Immunsuppressiva (unter anderem Hydrocortison betroffen)
Medikamenten-Notstand: Wie entwickelt sich die Lage in Deutschland?
Gewerkschaften und Apotheken sehen vor allem die Globalisierung als Ursache für die Engpässe bei Medikamenten. Etwa 68 Prozent der Produktionsorte für Wirkstoffe liegen in Asien. Das geht aus einer Studie des Pharmaverbands vfa hervor. Wenn es beispielsweise in China oder Indien zu einem Produktionsstillstand kommt, dann sind Lieferengpässe die Folge. Selbiges gilt für Verunreinigungen, Fertigungsprobleme oder Probleme bei den globalen Lieferketten durch Ausnahmesituationen.
"Früher war Deutschland die Apotheke der Welt, heute sind China und Indien die Apotheke der Welt", sagte Preis. Er blickt mit Sorge in die Zukunft und erwartet für das Jahr 2023 eine "Steigerung der Lieferdifizite".
Ausgenommen bei den Lieferengpässen sind Impfstoffe. Laut dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI), dem deutschen Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, sind alle Standardimpfstoffe zurzeit verfügbar (Stand 15. Dezember 2022). Einzig Reiseimpfstoffe zweier Hersteller gibt es erst wieder ab Frühjahr 2023: Einen Cholera-Impfstoff der Firma Dukoral und einen Impfstoff gegen das Japanischer Enzephalitis Virus der Firma Ixiaro.