„Gehen wir gleich zu dir oder zu mir?“, fragt Gerhard Büttner beim Mittagessen und beugt sich zu Waltraut Eipperle. Beide sitzen an einem langen Tisch im Speisesaal, vor ihm steht eine Schale mit weißem Pudding. „Möchtest du den Rest?“, fragt er. „Den nehme ich für später mit“, sagt sie. Sie isst gerne seinen Nachtisch, er ihren Hauptgang.
Waltraut, 88, und Gerhard, 89, lernten sich vor eineinhalb Jahren im Altersheim Haus Martinus in Stuttgart kennen und verliebten sich. „Hier saßen wir uns gegenüber und hier sitzen wir heute noch“, sagt Waltraut auf die Frage, wo alles angefangen hat. Rechts von ihr schläft eine Frau im Rollstuhl. Gegenüber wacht ein Mann aus seinem Mittagsschlaf gerade auf.
„Da ist die Mariakirche“, sagt Gerhard und zeigt auf die Fensterfront im Speisesaal. Auf seinen Rollator gestützt gibt er eine Führung durchs Altersheim, als wäre er noch in seiner eigenen Wohnung. An seiner Gehhilfe prangt eine große Klingel, weiß, mit roten Rosen drauf, falls er mal jemanden aus dem Weg klingeln muss. Am linken Griff baumelt eine goldene Kette, daran der Transponder für sein Zimmer. Der Rollator fällt auf, wie ein Moped, das er ein bisschen aufgemotzt hat.
Liebe im Alter: Bevor er Waltraut kennen lernte, lag er oft im Bett und weinte
Bevor Gerhard Waltraut kennen lernte, lag er nachts oft wach und weinte. Er lebte 35 Jahre in einer schönen Wohnung mit Ölgemälden an den Wänden und Souvenirs von seinen Reisen im Glasschrank. Am Ende schaffte er seinen Haushalt nicht mehr allein und zog in die Einrichtung in der Olgastraße. Nur wenige dieser Erinnerungen konnte er mitnehmen. Ein Bild aus einem griechischen Kloster steht noch in seinem Zimmer. Auf einem Motorrad ist er damals ganz Kreta abgefahren. Er war nie verheiratet, hat keine Kinder. Als er 18 war, hatte er eine Freundin. Sie war neun Jahre älter als er und konnte keine Kinder bekommen. Sie wollte ihm die Chance auf eine Familie nicht verbauen und trennte sich. Die beiden waren ihr Leben lang befreundet, bis sie vor fünf Jahren starb. „Ich dachte nicht, dass ich noch mal eine Partnerschaft haben würde.“
Waltraut hält ihren Transponder an ihre Zimmertür und schließt auf. Gerhard betritt ihr Zimmer, stützt sich ab und drückt auf den Schalter einer Lichterkette, die eine Rose aus Plastik ziert und auf Waltrauts Schreibtisch steht. Neben der Rose klebt ein Polaroid-Bild an einem Regal, zeigt sie in seinen Armen am zweiten Weihnachtsfeiertag mit ihrer Familie. Beide lachen. Auf ihrem Nachttisch steht ein Foto von ihr und ihrem Ehemann. Als Waltraut Gerhard traf, war sie seit etwa einem Jahr verwitwet. Sie dreht den goldenen Ring an ihrem Finger, den sie seit mehr als 64 Jahren trägt.
Sie hatte über Jahre ihren schwer kranken Mann gepflegt
Sie hatte ihren Mann jahrelang gepflegt. Kochte das Essen, machte die Wäsche, kaufte ein. Sie half ihm aus dem Bett, wenn er nicht aufstehen konnte. Half ihm vom Boden auf, wenn er gestolpert war. Er hatte Altersdemenz, dann einen Schlaganfall, war dann gelähmt, konnte nicht mehr sprechen und nicht mehr essen. Irgendwann kam eine Pflegekraft zur Hilfe. Nach seinem Tod trug sie 14 Tage lang schwarz. Dann dachte sie sich: Die Trauer muss ich nicht nach außen tragen, die trage ich in mir drinnen. „Ich bin zur Ruhe gekommen und konnte endlich wieder durchschlafen“.
Sie wischt mit einem Taschentuch über ihre Augen, als sie davon erzählt. Tut das Tuch ins Netz an ihrem Rollator, der gegenüber von ihr steht, direkt neben Gerhard. Er tröstet sie, sagt, sie sei nah am Wasser gebaut und erzählt ihre Geschichte weiter, als ihr die Wörter im Hals steckenbleiben.
Waltrauts Tochter erzählt am Telefon, dass sich ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes allein gefühlt hat. Jeden Tag ruft Sabine Braun ihre Mutter im Altersheim an. Ihre Schwester Ulrike hatte dann irgendwann von dem Mann erzählt, der viel Zeit mit ihrer Mutter verbringe. „Die Mama war wie verliebt“, erinnert sich Sabine und sagt: „Mit meinem Vater hat sie ihr erstes Leben gelebt. Mit Gerhard nun ihr zweites.“
Er meditiert am Grab ihres Mannes
Manchmal gehen sie zusammen ans Grab von Waltrauts Ehemann. Es ist nicht weit, nur die Straße runter. Gerhard schließt dann die Augen und meditiert ein bisschen. Um an ihn zu denken und eine Verbindung aufzubauen, auch wenn andere das vielleicht komisch finden, wie er sagt. Wenn die beiden zusammen am Grab stehen, ist Waltraut nicht mehr traurig. Sie freut sich, dass ihr Mann sterben durfte, nachdem er so lange krank war. Und ist sich sicher, dass er sich auch für sie freuen würde, wenn er wüsste, dass sie sich nochmal verliebt hat.
Zum ersten Mal aufgefallen ist Waltraut Gerhard im dritten Stock. Mit seiner Clique aß er am langen Tisch im Speisesaal. Und hinter ihm saß sie – die Neue. Jeden Tag habe sie dort gesessen, in sich zusammengekauert, habe nicht gesprochen, nur gegessen und sei dann schnell wieder verschwunden. Irgendwann habe Gerhard sie gefragt, ob sie nicht zu ihm herüberkommen und sich mit ihm unterhalten möchte. „Sie sah so traurig aus. Ich wollte wissen, wie es ihr geht und in welchem Zimmer sie wohnt.“
Verliebt im Altersheim: Er hat sie im Speisesaal angesprochen
„‘Das geht Sie gar nichts an‘, habe ich geantwortet“, sagt Waltraut lachend. „Ich war ablehnend am Anfang.“ Im Oktober 2021 war sie erst ins Altersheim gezogen, ein Jahr zuvor war ihr Mann gestorben. Sie habe einfach an ihrem Tisch gesessen und sich allein gefühlt. „Sie hat sich gedacht, was will der Typ von mir. Ich habe gedacht, ich möchte ihr helfen“, sagt er. „Und heute helfen wir uns beide“, sagt sie. „Zum Beispiel beim Strümpfe ausziehen.“
Irgendwann wurde das Essen vom dritten Stock in den vierten verlegt. Als die beiden neue Plätze zugewiesen bekommen haben, habe Gerhard die Stationsleitung gefragt: Kann Waltraut an unseren Tisch kommen? Von da an saßen sie sich gegenüber, am langen Tisch vorne rechts. Zum Frühstück, Mittag- und Abendessen. Da habe Waltraut gemerkt, dass er genau wie sie gerne gutes Essen mag. Im Altersheim gebe es immer nur Wurst und Käse. Eines Tages sind sie zum Supermarkt spaziert und haben sich zusammen einen Fisch gekauft. Da habe sie langsam gemerkt, dass sie ihn gut findet und, dass da mehr ist als Freundschaft.
Irgendwann erzählte Gerhard seinem besten Freund von Waltraut und davon, wie sehr er sie mag. Dann brachte er Gerhard zwei Tassen mit vom Weihnachtsmarkt, rot, und in weißer Schrift stand Walli und Gerhard darauf. Waltraut war jetzt Walli. Er habe ihr die Tasse gegeben. Waltraut war überrascht, habe die Tasse aber behalten. Von da an gingen die beiden zusammen spazieren. „Das mit uns hat sich langsam entwickelt.“ Am Anfang dachte sich Waltraut: Was soll das denn jetzt, jetzt warst du 64 Jahre verheiratet und dann verliebst du dich nochmal neu.
Das Schöne ist, dass man Liebkosungen austauscht
„Im Grunde genommen ist Verlieben mit 86 so wie mit 14“, sagt Waltraut. Es sei wieder aufregend und kribbelt im Bauch. Aber man frage sich auch: Lohnt sich das jetzt noch? Und: Haben wir genug Kraft, um diesen Spaziergang noch zu machen? „Wir müssen mit unseren Kräften haushalten. Dadurch nimmt man die Liebe bewusster wahr.“ Dass Gerhard so liebevoll ist, mag sie besonders gerne. „Das ist ja auch das Schöne, dass man sich berührt und Liebkosungen austauscht. Das kann man sich in jungen Jahren vielleicht gar nicht so vorstellen. Aber das ist im Alter genauso schön wie in der Jugend.“ Sex haben sie aber keinen mehr. Darüber hätten sie sich unterhalten, als sie zusammengekommen sind. „Da hat Gerhard gesagt, das funktioniert bei ihm nicht mehr. Und das ist okay.“
„Die anderen wissen natürlich von uns. Wann war das denn, als wir beide so schick angezogen waren und uns alle gesehen haben?“ „Da waren wir auf einem Konzert in der Leonhardskirche.“ „Da kam die Heimleiterin uns entgegen und hat gefragt: ‚Oh, gehen Sie jetzt zum Standesamt?‘. Das ganze Haus hat von uns mitbekommen. Walli war am Anfang ein bisschen zurückhaltend. Inzwischen küssen wir uns auch vor den anderen.“
Über Fasching war Waltraut eine Woche bei ihrer Tochter Sabine zu Besuch in Frankfurt, hat ihre Enkel und Urenkel besucht. Da haben sie und Gerhard jeden Tag miteinander telefoniert. Abends habe er immer ein bisschen Fernsehen geguckt und dann habe sie angerufen. Als sie sich nach dieser Woche das erste Mal wieder umarmt haben, habe er sich so gefreut. Da habe er gemerkt, wie sehr sie ihm fehlt, wenn sie nicht da ist.
Der erste Kuss kommt immer in der Früh
Gerhard und Waltraut sind es gewöhnt, alles zusammen zu machen. Der erste Kuss kommt in der Früh. Jeden Morgen klopft Gerhard an ihre Zimmertür, schräg gegenüber von seiner, und dann gehen sie zusammen zum Frühstück. Der letzte Kuss kommt abends, bevor sie schlafen gehen, jeder in seinem Zimmer. „Außer Schlafen gibt es praktisch nichts, was wir nicht gemeinsam machen“, sagt er. „Das wäre auch schlecht in diesen Betten. Dann müsste ich hinten liegen und er vorne. Aber dann fällt er aus dem Bett“, sagt sie.
Manchmal diskutieren sie auch. Sie sagen beide gerne ihre Meinung. Zum Beispiel, wenn sie einkaufen gehen und sie nur kurz was erledigen möchte. Sie weiß meist vorher, was sie braucht, und kauft das dann. Aber Gerhard brauche ewig. Er will dann durch die Gänge schlendern und vor den Regalen stehen bleiben. Wenn er in der Stadt unterwegs ist, will er gucken, was es so gibt. Aber einen richtigen Streit hatten sie noch nie. Und wenn sie Unstimmigkeiten haben, klären sie vorm Schlafen immer alles. Mit fast 90 Jahren wüssten sie nie, ob sie am nächsten Tag noch die Gelegenheit dazu haben.
Gerhard hat Krebs, einen Tumor hinter dem Auge. Die Ärzte wollten ihn Ende letzten Jahres operieren, aber das sei ihm zu gefährlich. Wenn er es machen würde, würde er vielleicht noch länger hier sitzen, aber könnte nichts mehr sehen. „Es kann sein, dass ich in ein oder zwei Jahren an meinem Tumor sterbe oder ich habe morgen einen Schlaganfall und bin weg“, sagt er. „Ich helfe Gerhard, wo ich kann“, sagt sie. „Wir stehen das zusammen durch. Und dann bleibt einer von uns zurück.“
Sie fasst sich an ihren Hals, an eine Kette mit lilafarbenen Steinen, die sie von Gerhard geschenkt bekommen hat. So zwischendurch mal, wenn man sich so Sachen schenke. Sie hat ihm einen Gutschein für eine Fußpflege geschenkt. Er hat den Zettel in der Schublade in seinem Schrank aufbewahrt, holt ihn heraus und breitet ihn aus. Darauf zwei Füße mit lächelnden Smileys auf den Zehen.
Seit sie Gerhard kennt, ist sie lebensfroher geworden, freier
Seitdem Waltraut Gerhard kennengelernt hat, sei sie lebensfroher geworden und freier. Sie nehme das Leben weniger ernst. Sie machen viele Witze zusammen, nehmen sich gegenseitig auf den Arm. Sie lachen viel, wie kleine Kinder. Oder spielen Spiele zusammen, jeden Tag. Triominos heißt das Spiel, das sie gerade spielen. Gerhard und Waltraut mögen Spiele, wo sie ein bisschen nachdenken müssen. Wo sie ihre Gehirnzellen anstrengen können. „Damit wir fit bleiben.“
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