Der Waldfriedhof liegt verlassen da. Nur ein paar Jogger laufen ihre Runde, hier am Rand des graubraunen Stockholmer Außenbezirks Älta. Zwei Rentner folgen ihren Hunden querfeldein durch die lose gepflanzten Kiefern. Vor einer Woche hätten schwer bewaffnete Polizisten hier niemanden durchgelassen. Kiefer, Polizist, Kiefer, Polizist – so sah der Wald aus an dem Tag, an dem die 18-jährige Ndella Jack beerdigt wurde. Sie ist das jüngste Todesopfer der Revierkämpfe, die sich Mitglieder des Organisierten Verbrechens in Schweden liefern.
In Schweden, dem Bilderbuch-Land. Da, wo die Bewohner hübscher Holzhäuser tagsüber ihre Haustüren nicht verschließen? Kaum vorstellbar. Von Schießereien war nie die Rede in den Abenteuern, die die Kinder aus Bullerbü in den Astrid-Lindgren-Büchern erlebten. Doch die Internationale Polizeibehörde Europol nennt Schweden heute das "Labor für Experimente der Organisierten Kriminalität in Europa".
Sogar Schwedens König ist besorgt um die Sicherheit
Selbst Schwedens König Carl Gustaf wandte sich Ende August an sein Volk. Er sei "besorgt" um die Sicherheit in seinem Land. Kurz vorher war in Malmö eine 30-Jährige mitten in der Stadt erschossen worden. Das Baby, das sie auf dem Arm trug, blieb unverletzt. Später wurde bekannt, dass der Ehemann der Toten einst Mitglied einer kriminellen Gang gewesen war.
Das Grab des Opfers von Stockholm, Ndella Jack, sieht eher aus wie das eines Kindes. Zwei große Teddybären lehnen sich an den frisch aufgeschütteten Erdhaufen. Neben einem großen roten Blumenkranz ihrer Familie liegt eine einzelne Rose. Man kann spekulieren, ob sie von ihrem Ehemann ist. Wie zynisch wäre das: Denn alles deutet darauf hin, dass er anstelle der 18-Jährigen hier liegen sollte. Für ihn waren die Kugeln bestimmt, die die geschlossenen Vorhänge bei der Wohnung im beschaulichen Stockholmer Vorort Räcksta durchschlugen.
Die 18-Jährige, von der ihre Familie bei der Beerdigung sagte, sie habe "immer jedem helfen wollen", hatte das Pech, sich in den Falschen zu verlieben. In den 33-Jährigen, der das Organisierte Verbrechen in Stockholms gute Stadtviertel zog. Denn die Polizei will zwar nicht ganz ausschließen, dass eine Privatfehde der Grund für die Schüsse ist. Für viel wahrscheinlicher hält sie aber eine Racheaktion unter professionellen Kriminellen.
Adam Svensson, Reporter bei Schwedens auflagenstärkster Tageszeitung Dagens Nyheter, hat zwischenzeitlich fast jeden Tag über die Schießereien berichtet und mit vielen Schweden über die Vorfälle geredet. "Was die Leute schockiert", sagt der große Journalist mit dem blonden Vollbart, "ist, dass die Anschläge jetzt in den ,guten Nachbarschaften‘ stattfinden." Das stehe in starkem Kontrast zum Sicherheitsgefühl in seinem Land. Denn insgesamt gelte Schweden ja als sehr sicher. Am meisten aber beunruhige die Leute, "dass unschuldige Menschen zu Opfern werden".
Ein paar Tage später wird die Polizei erneut zu einer Schießerei gerufen, diesmal im Stadtteil Sickla – blitzblanke Einkaufspassagen, neu gebaute S-Bahn-Station, eine Wohnanlage aus roten Ziegelsteinen. Als die Ermittler in der ruhigen Wohnstraße eintreffen, finden sie keinen Täter, dafür einen angeschossenen Taxifahrer und einen Verletzten in einer Wohnung im zweiten Stock. Zufallsopfer. Einer von beiden werde sein Leben lang körperlich eingeschränkt bleiben, berichten seine Ärzte. Die Stockholmer Polizei ermittelt schnell: "Wir glauben, dass dieselbe Person Ziel der beiden Mordanschläge war." Ndella Jacks Ehemann, eine große Nummer im schwedischen Drogengeschäft.
Die Frau hat die Schüsse gehört, "pam, pam, pam, pam"
Mit Rauschgift hat es oft zu tun. Auch für Deutschland berichtet das Bundeskriminalamt (BKA), dass die bekannten Gruppen Organisierter Kriminalität "überwiegend" im Rauschgifthandel und -schmuggel tätig seien. Rund 36 Prozent der mehr als 570 Gerichtsverfahren im Jahr 2017 etwa drehten sich um Drogenhandel. Nach dem aktuellsten "Bundeslagebild Organisierte Kriminalität 2017" folgt auf Platz zwei die Eigentumskriminalität mit halb so vielen Fällen – etwa (Einbruchs-)Diebstahl und Hehlerei. Das BKA warnt außerdem vor den internationalen Kontakten der Kriminellen. "Ländergrenzen werden zwar als solche wahrgenommen, stellen aber kein Hindernis mehr dar", heißt es. Im Europol-Hauptquartier in Den Haag geht man von mehr als 7000 international agierenden Banden aus: "Die Organisierte Kriminalität ist das größte Risiko für die innere Sicherheit Europas – größer als der Terrorismus", dieser Satz fiel im Sommer bei einem Expertentreffen in der Behörde.
Die Besitzerin eines Ladens für Kinderbekleidung in Sickla konnte die Bedrohung spüren, die in diesen Wochen über Stockholm schwebt wie die herbstlichen Regenwolken, von denen auch niemand weiß, wann sie platzen. "Ich habe die Schüsse gehört, pam, pam, pam, pam." Die Frau mit dem pragmatisch zurückgebundenen braunen Haar will ihren Namen nicht sagen, will für niemanden identifizierbar sein. "Man weiß ja nie." Sie lebt in derselben Wohnanlage mit den verglasten Balkonen, in der ein Unbeteiligter niedergeschossen wurde, weil die Täter ihr eigentliches Ziel verfehlten – Ndella Jacks Ehemann, der dort gerade in ein Taxi steigen wollte.
Tage später, an einem trägen Nachmittag, sieht man Spuren der Tat nur noch mit Detektivblick. Ein Paar mit Baby spaziert vorbei. Würden sie einen Meter weiter links gehen, die Reifen ihres Kinderwagens bekämen wohl einen Platten von den Splittern des zerschossenen Fensters aus dem zweiten Stock. Die Szenerie erinnert an einen Tatort in Ulm aus dem Jahr 2015, wo Rocker Schüsse auf ein Bordell abfeuerten, stattdessen aber ein Hotel daneben trafen. Damals wurde niemand verletzt.
2016 starben 17 Menschen, zum Teil umgebracht mitten auf der Straße
Die Ohrenzeugin von Sickla steht jetzt wie jeden Tag hinter der Kasse in ihrem Laden, vor dem die Buggys parken. Sie sei froh, dass sie endlich mal über die Schießerei reden könne, gesteht sie. Von den Eltern, die bei ihr einkaufen, spreche keiner das Thema an. "Was sollen wir sagen, wir wissen ja nichts", wirft eine Mutter ein, die gerade eine kleine Regenjacke begutachtet.
Die Polizei weiß oft ebenso wenig. Cosa Nostra, ’Ndrangheta, Hells Angels, Bandidos: Fest identifizierbar wie einst seien die mafiösen Gruppen längst nicht mehr, erklärt Kriminologe Manne Gerell. "Wir sprechen nicht mehr von Banden, es sind eher fluktuierende Netzwerke." Gerell unterrichtet an der Universität von Malmö. Wenn Schweden die Experimentierkammer Organisierter Kriminalität ist, dann ist Malmö der Bazillus unter dem Mikroskop. 2016 berichteten Medien in ganz Europa über eine Verbrechensserie, wie sie sich kein schwedischer Krimi-Autor hätte gruseliger ausdenken können. Am Ende des Jahres waren 17 Menschen tot, zum Teil umgebracht mitten auf der Straße. Bis heute fahndet die Polizei nach Tätern.
Aber warum Schweden? Diese Frage bereitet Kriminologen seit den 90er Jahren Kopfzerbrechen, als sich Rockergruppen immer wieder blutige Schießereien geliefert hatten, die den heute geflügelten Begriff des "Rockerkriegs" prägten. Zumindest für Malmö wagt Verbrechenskenner Gerell eine Vermutung: Mögliche Ursachen seien eine im Vergleich zum Rest Schwedens vergleichsweise hohe Armutsrate und eine Reihe von Problemvierteln, in denen Drogengeschäfte auf offener Straße getätigt würden. Auch die Lage Malmös als Transitstadt nahe der Grenzen zu Dänemark und zu Mitteleuropa vermutet er als Grund. Entlang der Grenzen verlaufen die Schmuggelrouten der Gangster, dort kommen die Waffen ins Land.
Die Frau aus dem Kinderladen in Sickla glaubt, dass die Quelle der Gewalt woanders liegt: Nicht zu viele Waffen seien über die Grenzen gekommen, sondern zu viele Menschen, sagt sie. "Man hätte nicht so viele reinlassen dürfen."
Organisierte Journalistin zieht vor allem junge Schweden in ihre Fänge
Schweden war 2015 das gelobte Land für Asylsuchende. Der skandinavische Staat mit seinen zehn Millionen Einwohnern nahm im Verhältnis zur Bevölkerungszahl doppelt so viele Flüchtlinge auf wie Deutschland. Sie hätten die Gewalt gebracht, davon sind viele derer überzeugt, die den rechtskonservativen Schwedendemokraten bei der Reichstagswahl 2018 in dem traditionell sozialdemokratischen Land plötzlich ein Fünftel aller Stimmen bescherten.
Doch die Organisierte Kriminalität, das zeigt die Statistik, zieht nicht Flüchtlinge in ihre Fänge, sondern vor allem junge Männer mit schwedischem Pass, die in abgehängten Vierteln leben. Europol bestätigt, dass 60 Prozent aller Verdächtigen Europäer sind. Viele Stimmen in Schwedens öffentlicher Debatte fordern deshalb, nicht nur hunderte zusätzlicher Millionen für mehr Polizisten auszugeben, wie Ministerpräsident Stefan Löfven es veranlasst hat. Sie sehen die Politik in der Pflicht, die wachsende ökonomische Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten zu kitten. Denn auch in dem Land, das in der Gleichbehandlung von Männern und Frauen Vorbild für ganz Europa ist, driften die Löhne auseinander, die Wohnkosten sorgen dafür, dass sich Manager und Müllmann beim Bäcker kaum begegnen.
Die Stockholmer Polizei betont trotz der Verbrechen, dass die Einwohner der Stadt und die Touristen keine Angst haben müssten. Bei den Taten handle es sich um Racheakte unter kriminellen Vereinigungen. Die Wahrscheinlichkeit, zum Zufallsopfer zu werden, sei sehr niedrig. Die meisten Schweden glauben dem, was die Polizei sagt. Journalist Adam Svensson schreibt jetzt wieder über ein anderes Thema, eine Rattenplage in der Hauptstadt.
Die Bewohner der bürgerlichen Vororte lassen weiter ihre Haustüren offen. Und die Frau, die in Sickla den Laden für Kinderbekleidung führt, will sich weiter nach draußen wagen – morgens, abends, egal wann, sagt sie. "Das ist meine Straße, nicht die irgendwelcher Krimineller."
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