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Krieg in der Ukraine: Oleg rettet Menschen vor Putin

Krieg in der Ukraine

Unterwegs mit einem Rettungsbus in der Ukraine: Oleg rettet Menschen vor Putin

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    Natalia muss aus ihrer Heimatstadt flüchten. Der blaue Transporter bringt sie in Sicherheit.
    Natalia muss aus ihrer Heimatstadt flüchten. Der blaue Transporter bringt sie in Sicherheit. Foto: Till Mayer

    Es ist ein Abbild der Verlorenheit. Ein ausgebrannter Radpanzer steht an der Kreuzung. Seit langem erloschene Ampellichter hängen an einem Kabelstrang vom Stahlmast herab wie an einem Galgen. Ein Raketeneinschlag hat Splitter und Erdreich auf das Weiß der eingeschneiten Fahrbahn geworfen. Über allem liegt Stille, die in aller Regelmäßigkeit vom Krachen und von dumpfen Schlägen der Artillerie zerrissen wird. Und vom Brummen eines Dieselmotors.

    Oleg fährt zügig mit dem alten blauen Renault-Transporter auf die Kreuzung zu. Links und rechts säumen meist einstöckige Häuser die Straße. Bei einigen ragen verkohlte Latten der Dachstühle in den Himmel. Oder es stehen nur noch nackte Wände von dem, was einst Heimstätten von Menschen waren. Der Großteil ist vor den immer näher rückenden Kämpfen und den zunehmenden Bombardierungen geflohen.

    Drohnen sind in Pokrowsk für viel Zerstörung verantwortlich

    „Drohnen sind hier ein Problem“, sagt Oleg und deutet auf das Wrack des gepanzerten Fahrzeugs. Nicht weit entfernt steht ein Auto, das ebenfalls nach einem Einschlag ausgebrannt ist. Der 39-Jährige will gerade Richtung Stadtzentrum abbiegen, als er drei Seniorinnen aufgeregt winken sieht. Sie stehen an einer Bushaltestelle. Nur, dort macht schon seit Monaten keine Linie mehr Halt. Oleg hält. „Danke, danke“, ruft Nina mit zitternder Stimme.

    Die 68-Jährige hat Tränen in den Augen. „Bitte nimm uns mit“, ruft Svitlana, 61. Oleg zeigt auf das an den Seitenscheiben aufgebrachte Logo der Hilfsorganisation Nova Ukraine: „Wir sind zum Evakuieren gekommen, es ist Platz im Auto.“ Die Seniorinnen versuchen ein Lächeln. Alle drei sind am Ende ihrer Kräfte. Auf einem Rollstuhl haben sie zwei große Taschen und einen kleinen Koffer platziert und das Gefährt über zwei Stunden durch den Schnee geschoben. Natalia hat eine Gehbehinderung. Zwei Stunden Fußmarsch durch die Kälte müssen ein Kraftakt für sie gewesen sein.

    „Wir konnten nicht mehr bleiben. Die russischen Soldaten sind so nahe. Unser Viertel steht unter ihrem Dauerbeschuss. Auch unsere Häuser sind schon beschädigt, die Fensterscheiben zersprungen, die Dächer beschädigt“, erklärt Natalia. Ihre Tochter ist mit dem Sohn von Svitlana verheiratet. Er kämpft nahe Pokrowsk an der Front, die Tochter ist mit den Kindern nach Finnland geflohen. „Wenn wir den Ofen eingeschürt haben, hatten wir Angst, dass uns der Rauch verrät. Russische Drohnen halten nach Rauch Ausschau. Sehen sie etwas, kommt der Angriff“, erzählt Nina.

    Nina und ihre Freundinnen haben in Pokrowsk ihr Gepäck auf einem Rollstuhl durch den Schnee geschoben.
    Nina und ihre Freundinnen haben in Pokrowsk ihr Gepäck auf einem Rollstuhl durch den Schnee geschoben. Foto: Till Mayer

    Die ukrainische Armee schickte dem Trio einen Teil des Wegs eine Drohne voraus, damit sie eine halbwegs sichere Route finden. „Dann konnten wir nur hoffen, dass uns jemand hier mitnimmt. Wir hatten Glück“, sagt sie. Aber zwei betagte Nachbarn mussten die Frauen zurücklassen. „Sie waren zu schwach für den Weg“, sagt Svitlana. Einer sei bettlägerig.

    Ich will einfach niemanden zurücklassen.

    Oleg, Busfahrer

    Oleg hört ihnen zu. Über seiner Strickmütze trägt er einen Schutzhelm. Die Kälte formt aus dem Atem dünne Wolken. Seinen Körper schützt ebenso wie bei seinem Beifahrer Anatoliy eine schusssichere Weste. Oleg kennt das Viertel der drei Rentnerinnen. „Ohne gepanzertes Fahrzeug, keine Chance. Für einen Bettlägerigen ist eine Trage nötig. Ich werde die Armee informieren, damit sie einen Transport organisiert“, kündigt der 39-Jährige an. Die drei Frauen steigen in den Transporter ein. Svitlana streichelt das letzte Mal ihren Hund. „Er ist den Weg mit uns gelaufen“, sagt sie und hat Tränen in den Augen. Sie muss das Tier zurücklassen.

    Keine 500 Meter weiter läuft eine Seniorin die Straße entlang. Sie schiebt ein altes Fahrrad. Oleg lässt die Scheibe herunter. „Wir können Sie evakuieren“, ruft er ihr zu. Die alte Frau überlegt nicht lange und nickt. Ihr kleines Haus ist kaum zwei Minuten entfernt. „Wir müssen uns beeilen“, ruft ihr Oleg zu. Im Haus packt die Rentnerin ihre Habseligkeiten in eine Tasche. Oleg, der gelernte Schweißer, sieht ihr schweigend zu. So oft hat er bei seinen Einsätzen gesehen, wie Menschen ihr Hab und Gut für die Flucht zusammenklauben. Seit Beginn der Invasion hat er Menschen gerettet. Waisen aus Kampfgebieten, krebskranke Kinder. Einmal musste er sehen, wie eine Granaten-Explosion ein Kind zerriss. Oleg sagt, er wolle einfach niemanden zurücklassen.

    Dann geht es mit dem Transporter weiter. Der Neuankömmling im Wagen blickt regungslos aus dem Fenster. Ihr wird klar, dass sie ihr Haus vielleicht nicht mehr sehen wird. Weil die Stadt unter russische Besatzung gerät, oder weil es zerstört wird.

    Inmitten der Zerstörung erinnert das Bild eines Models an ein kleines bisschen Luxus.
    Inmitten der Zerstörung erinnert das Bild eines Models an ein kleines bisschen Luxus. Foto: Till Mayer

    Der Weg des blauen Transporters führt jetzt quer durch die ganze Stadt, die einmal fast 55.000 Einwohner zählte. Mehr als 90 Prozent der Menschen sind geflohen. Von der Hotline der Hilfsorganisation hat Oleg eine Adresse bekommen. Er soll einen älteren Herren abholen. Im Auto herrscht Schweigen. Ab und an schluchzt Svitlana. An den Fenstern ziehen Ruinenlandschaften vorbei. Ausgebrannte Häuser, Wohnblocks, in denen Raketen eingeschlagen sind. In einer völlig zerstörten Geschäftszeile hängt noch das Porträt eines Models inmitten der Zerstörung.

    Ganze Baum-Alleen sind gefällt, damit die Verteidiger freie Schussbahn haben. Stacheldrahtverhaue und sogenannte Drachenzähne, spitzeckige Betonbarrieren, zeigen, dass sich die ukrainische Armee auf einen Straßenkampf vorbereitet. Beobachter gehen davon aus, dass Pokrowsk in einigen Wochen fallen könnte. Seit Sommer 2024 rücken die russischen Truppen mit brachialer Gewalt vor, schlagen Gleitbomben, Artilleriegranaten und Kamikazedrohnen in der Stadt ein. Stück für Stück kommen die Angreifer näher. Sie sind schon in den ersten Außenbezirken angelangt. Stück für Stück verwandeln sie die Stadt in ein Trümmerfeld. Doch die Verteidiger erringen immer wieder Erfolge.

    Russland opfert wissentlich die eigenen Soldaten

    Pokrowsk ist ein Sinnbild für die Brutalität des Angriffskriegs Russlands. Ein Krieg, bei dem die Aggressoren selbst auf das Leben der eigenen Soldaten keine Rücksicht nehmen. In immer neuen Angriffswellen treiben die russischen Offiziere ihre Kämpfer in den heftigen Beschuss der Verteidiger. Zigtausende dürften dabei ums Leben gekommen sein.

    Eine Fahrt durch die umkämpfte Stadt lässt Zahlen des Krieges in der ganzen Ukraine greifbar werden: Seit der vollumfänglichen Invasion wurden Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten getötet oder schwerst verwundet. 14.000 Zivilisten, darunter fast 600 Kinder, kamen bei den Angriffen um, 27.000 weitere wurden verletzt. 162.000 Häuser und Wohnungen liegen in Trümmern. 1900 Gesundheitseinrichtungen wurden beschädigt oder bestehen nur noch aus Ruinen. Rund zwei Millionen Landminen verseuchen 174 Quadratkilometer Land. 8850 Einrichtungen der Energie-Infrastruktur und Wasserversorgung attackierte Russland bereits. Seit Monaten haben beispielsweise die vier Seniorinnen im Bus kein fließendes Wasser, keinen Strom und keine Heizung mehr. Auch in Pokrowsk haben Klinikum und Universität schwere Treffer abbekommen.

    Wladimir Putin knüpft eine Waffenruhe an nicht näher benannte Bedingungen. Experten sagen: Er möchte keine Feuerpause.
    Wladimir Putin knüpft eine Waffenruhe an nicht näher benannte Bedingungen. Experten sagen: Er möchte keine Feuerpause. Foto: Alexander Zemlianichenko/AP, dpa

    „Das Bulvar hat es auch erwischt“, sagt Svitlana und schüttelt den Kopf. Das neue Einkaufszentrum war ein wenig der Stolz von Pokrowsk. Hinter den zersprungenen Fensterscheiben und herabgestürzten Verkleidungsteilen gab es noch vor wenigen Monaten einen schicken Supermarkt und ein hippes Restaurant. Ein wenig Großstadtflair in der sonst eher schlichten Bergbaustadt. Wegen seiner Kohleminen und als Verkehrsknotenpunkt ist Pokrowsk das Ziel der russischen Armee.

    Derweil hat Oleg Probleme, sein Ziel zu finden. Sein GPS spielt verrückt. Ein alter weißer Lada holpert ihnen entgegen. Der 39-Jährige hält ihn an, lässt sich vom Fahrer den Weg erklären. Als sie das Wohnhaus erreichen, öffnet der gesuchte ältere Herr erst nach lautem Rufen und Klopfen. „Wir kommen, um Sie zu evakuieren, Verwandte haben uns Ihre Adresse gegeben“, erklärt Oleg. Der Senior schüttelt den Kopf. Er will bleiben.

    Für Diskussionen ist keine Zeit. Alles muss schnell gehen. So fährt der blaue Transporter knirschend im Schnee an. Fünf Minuten später steht eine Drohne am Himmel. Keine 50 Meter vom kleinen Evakuierungs-Bus entfernt. Vermutlich eine russische Aufklärungsdrohne. Doch sie kann schnell Ungemach bringen. Oleg pfeift durch die Zähne und gibt Gas.

    Natalie will zu ihrer Tochter nach Finnland

    Rund eineinhalb Stunden später bringt das Evakuierungsteam die Seniorinnen zu einem Registrierungspunkt im sicheren Krywyj Rih. Hilfsorganisationen nehmen die Daten auf. Natalie will zu ihrer Tochter nach Finnland und Svitlana soll mitkommen. Nina hofft, bei Verwandten unterzukommen. Nun zählen die Rentnerinnen zu den 3,7 Millionen Binnenflüchtlingen. Natalie und Svitlana vielleicht bald zu den 6,3 Millionen ins Ausland Geflüchteten.

    Nachrichten haben die Seniorinnen seit geraumer Zeit keine gehört. Die Kehrtwende der Amerikaner als Partner. Donald Trumps böses Spiel mit der Ukraine wird die vier Frauen bis ins Mark treffen. Ihre Heimatstadt Pokrowsk ist vermutlich Verhandlungssache zwischen Russland und den USA.

    Gerade erst hat der russische Präsident Wladimir Putin Trumps Vorschlag einer Feuerpause abgelehnt und an nebulöse Bedingungen geknüpft. Militärexperten haben keinen Zweifel daran, dass er den Krieg gegen die Ukraine weiterführen möchte. Auf die Frage, ob sie in ein Pokrowsk unter russischer Besatzung zurückkehren würden, sagen die Frauen wie aus einem Mund: Nein.

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