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Kommentar: Deutschland beim ESC: Der NDR versteht nicht, worauf es ankommt

Kommentar

Deutschland beim ESC: Der NDR versteht nicht, worauf es ankommt

Daniel Wirsching
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    Zündet nicht so recht: Die Buchmacher sehen den deutschen ESC-Kandidaten Isaak weit hinten.
    Zündet nicht so recht: Die Buchmacher sehen den deutschen ESC-Kandidaten Isaak weit hinten. Foto: Jens Büttner, dpa

    Nach dem ESC-Finale in Malmö wird das Gejammere wieder groß sein: Niemand hat uns lieb, auch wenn’s mal Tränen gibt! An der deutschen „ESC-Hoffnung“ Isaak wird das nicht in erster Linie liegen, der 29-Jährige hat zumindest eine ordentliche Stimme. Sein Song will dennoch nicht hängen bleiben, selbst nach zehnmaligem Hintereinander-Anhören nicht.

    Zündet nicht so recht: Die Buchmacher sehen den deutschen ESC-Kandidaten Isaak weit hinten.
    Zündet nicht so recht: Die Buchmacher sehen den deutschen ESC-Kandidaten Isaak weit hinten. Foto: Jens Büttner, dpa

    Damit ist man bei einer Gewissheit des Eurovision Song Contest der letzten Dekade angelangt: Deutschland bietet Mittelmaß und wird auch in diesem Jahr zu spät kommen – dieses Mal eben mit Durchschnittspop, der nicht zuletzt an die Sieger-Titel von 2019 und 2015 erinnert. Sogar als sich ESC-Deutschland mit der Dark-Rock-Band Lord of the Lost im vergangenen Jahr etwas zu trauen glaubte (und darüber etwas irritiert schien), war das fern von neu und fern jeglichen Zeitgeistes: Erst 2021 hatten die italienischen Rocker von Måneskin gewonnen. Überdies: War es eine gute Idee, vor dem Hintergrund des russischen Vernichtungskriegs in der Ukraine von „Blood & Glitter“ zu singen? „Blut und Glitzer / Süß und bitter / Wir sind so glücklich, wir könnten sterben.“ Deutschlands letzte und vorletzte Plätze sind redlich verdient. Die Buchmacher, deren Wettquoten sich als recht zuverlässig erwiesen, sehen nun ebenfalls Isaak weit hinten.

    „Ich bin nichts als Durchschnitt“, singt ESC-Kandidat Isaak

    Und das hat einiges mit der musikalischen Qualität seines Beitrags „Always On The Run“ (Immer auf der Flucht) zu tun, der mit der (selbstironischen? unfreiwillig komischen?) Zeile beginnt: „I am nothin' but the average“ (Ich bin nichts als Durchschnitt). Nichts gegen Isaak, aber es stimmt ja … Es ist eines der vielen Missverständnisse, die die vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) verantwortete deutsche Kandidaten-Auswahl begleitet – dass allzu formatradiotaugliche Mettigeligkeit auf der gigantischen ESC- und TV-Bühne Begeisterungsstürme auslösen würde. Tut sie nicht, nein, non und no!

    Nemo vertritt die Schweiz im ESC-Finale in Malmö und zählt zu den Favoriten. In seinem Lied "The Code" verbindet er Drum ’n’ Bass mit Rap und Falsett-Gesang zur großen Oper.
    Nemo vertritt die Schweiz im ESC-Finale in Malmö und zählt zu den Favoriten. In seinem Lied "The Code" verbindet er Drum ’n’ Bass mit Rap und Falsett-Gesang zur großen Oper. Foto: Ennio Leanza/Keystone, dpa

    Hört man sich durchs aktuelle Teilnehmerfeld, fällt auf, dass Elektro und Experimentierfreude gerade zu den Trends in Europa zählen. Dazu muss man nur auf den Schweizer Mitfavoriten Nemo blicken, der Drum ’n’ Bass mit Rap und Falsett-Gesang zur großen Oper verbindet. Das ist vordergründig schrill. Doch es steckt mehr dahinter (wie hinter Stefan Raabs „Wadde hadde dudde da?“ mehr steckte). Weitere ESC-Gewissheit: Schrillsein allein reicht nicht; auffallen sollte man gleichwohl unbedingt. Isaaks Song ist … ach, hören und sehen Sie selbst!

    Es verursacht einem fast körperliche Schmerzen, wie sehr der NDR den ESC nicht versteht

    Wie sehr der in Deutschland federführende NDR den ESC nicht versteht und ihn mit lustlosen Shows, merkwürdigen Kandidaten (Jendrik im Jahr 2021) und zunehmend sonderbaren Jury-und-Onlinevoting-Regeln demontierte, verursacht einem fast körperliche Schmerzen. Kein Wunder, wenn der Vorentscheid und der ESC solch ein verheerendes Image haben wie einst die in der Fußball-Nationalmannschaft versammelten Rumpelfüßler.

    Verstehen sollte man: dass der ESC in Europa als ernst zu nehmender Wettbewerb wahrgenommen wird. Dass man auffallen muss, und zwar insbesondere mit musikalischem Mut. Dass es auf Emotionen ankommt, bereits während des Vorentscheids. Ausgerechnet als (oder eher: gerade weil) man 2010 mit dem Privatsender ProSieben und Stefan Raab kooperierte, punktete Deutschland in sämtlichen dieser Kategorien. Raab fand in einem Casting die damals 18-jährige Lena Meyer-Landrut, hielt den ESC wochenlang in den Schlagzeilen, sie machten gute Laune und trafen eine verbreitete Stimmung: Love, oh love! Nichts anderes geschieht in Italien oder Schweden, mit die erfolgreichsten ESC-Teilnehmerländer der vergangenen mehr als zehn Jahre. Italien hat das Sanremo-Festival, Schweden das Melodifestivalen. Deutschland? Immerhin Barbara Schöneberger.

    „Liebe wird aus Mut gemacht“, wusste Nena schon 1984. Der NDR scheint den ESC(-Vorentscheid) weder zu lieben noch in einen liebenswerten Event verwandeln zu können oder wollen noch Mut zu haben. Dabei hätte er wirklich nichts zu verlieren.

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