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Kommentar: Das Erdbeben in der Türkei ist auch Erdogans persönliche Katastrophe

Kommentar

Das Erdbeben in der Türkei ist auch Erdogans persönliche Katastrophe

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    Recep Tayyip Erdogan bei einem Besuch im Erdbebengebiet.
    Recep Tayyip Erdogan bei einem Besuch im Erdbebengebiet. Foto: Turkish Presidency, APA Images/dpa

    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verspricht einen schnellen Wiederaufbau der zerstörten Erdbebengebiete. Die mehrheitlich regierungsnahen Medien feiern ihn als tatkräftigen Macher, der das Land schnell aus dem tiefen Tal des Unglücks führen wird. Doch es war der Präsident, der die Türkei in dieses Tal hineingeführt hat, indem er sie nicht auf Erdbeben vorbereitete. Das Beben ist deshalb auch Erdogans ganz persönliche Katastrophe.

    Im türkischen Präsidialsystem liegt alle Macht in der Hand des Staatsoberhauptes. Erdogan wollte es genau so haben. Doch jetzt wendet sich dieses Prinzip gegen ihn. Denn es bedeutet, dass er für Verfehlungen verantwortlich ist, die nun ans Licht kommen: Seine Regierung erließ eine Amnestie, mit der hunderttausende schlecht gebaute oder illegal veränderte Gebäude für bewohnbar erklärt wurden, und schlug Warnungen von Wissenschaftlern vor einem kommenden Beben in den Wind. In den besonders wichtigen ersten Stunden nach dem Beben reagierten die Behörden zu langsam, weil sie auf Befehle von oben warteten. Trotz vieler Fehler musste bisher noch kein Minister oder hoher Bürokrat gehen, denn Loyalität geht Erdogan über alles. 

    Minister und Beamte in der Türkei tolerierten den Pfusch am Bau

    Die Opposition stellt die Systemfrage und fordert jetzt erst recht die Rückkehr zum parlamentarischen System. Das kommt für Erdogan nicht in Frage, weil das einen Machtverlust für ihn bedeuten würde. Wahrscheinlicher sind von ihm taktische Züge zu erwarten, um sich vor dem Zorn der Wähler zu schützen. Er könnte versuchen, die anstehenden Wahlen möglichst lange aufzuschieben. Gleich, ob ihm das gelingt oder nicht: Erdogan wird nicht so weitermachen können wie bisher. Das „Jahrhundert der Türkei“ hatte der Präsident ausgerufen. Jetzt erweist sich seine „neue Türkei“ als Kleptokratie, in der Zehntausende in baufälligen Häusern starben, weil seine Minister und Beamten den gefährlichen Pfusch am Bau tolerierten.

    Statt für Erdbeben vorzusorgen, steckte Erdogan viele Milliarden in Prestigeprojekte, mit denen er die neue Größe der Türkei demonstrieren wollte – vom ersten türkischen E-Auto bis zur Entwicklung eines eigenen Kampfflugzeuges. Im Gefühl der eigenen Stärke drohte Erdogan dem Nachbarn Griechenland mit Krieg und blockierte die Aufnahme von Finnland und Schweden in die Nato. 

    Jetzt zogen Rettungsteams aus Griechenland türkische Erdbebenopfer aus den Trümmern, und die Nato-Partner schickten mehr als 1400 Helfer – darunter Experten aus Finnland und Schweden. Nach dem Beben empfing Erdogans Außenminister seinen griechischen Kollegen und versprach, alle Differenzen im Dialog zu lösen. 

    Erdogan kann nicht so weitermachen wie bisher

    Nicht nur außenpolitisch wird Erdogans Türkei ab sofort kleinere Brötchen backen müssen. Die Wirtschaft litt schon vor dem Beben unter teils hausgemachten Problemen mit hoher Inflation und einem wachsenden Außenhandelsdefizit. Das Erdbeben ist ein neuer schwerer Schlag. Die Türkei braucht nun viel Geld für neue Häuser, Straßen und Brücken. Damit wächst ihre Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern. 

    Hätte Erdogan rechtzeitig die richtigen Prioritäten gesetzt, wäre die Türkei jetzt nicht in dieser Lage, und viele Menschen wären noch am Leben. Fachleute schätzen, dass die Regierung für die jetzt entstandene Schadenssumme das ganze Land gegen künftige Beben hätte wappnen können. Doch das ist nicht geschehen – darin liegt das historische Versagen des türkischen Präsidenten.

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