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Klimawandel: Die volle Wucht der Klimakrise: Lateinamerika versinkt im Chaos

Klimawandel

Die volle Wucht der Klimakrise: Lateinamerika versinkt im Chaos

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    Diese Menschen und der Esel können nach den Überschwemmungen in Brasiliens Bundesstaat Rio Grande do Sul gerade noch gerettet werden.
    Diese Menschen und der Esel können nach den Überschwemmungen in Brasiliens Bundesstaat Rio Grande do Sul gerade noch gerettet werden. Foto: Claudia Martini, dpa

    Es ist eine Katastrophe biblischen Ausmaßes, die der Süden Brasiliens derzeit erlebt. Riesige, in dieser Form historisch hohe Niederschlagsmengen haben sich über den Bundesstaat Rio Grande do Sul ergossen. Die Millionenstadt Porto Alegre wird wegen der über die Ufer getretenen Flüsse wohl noch mehr als einen Monat lang unter Wasser stehen. Die Schäden gehen in die Milliarden. Straßen existieren nicht mehr, Ernten sind zerstört, im Fußballstadion wabert eine braune Masse. Erst langsam wird den Menschen klar, dass hier nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.

    Mehr als 150 Menschen haben bislang ihr Leben verloren, über eine halbe Million wird ein neues Zuhause benötigen. Leute wie José de Lima Lopes. Er sitzt in einem Boot, das direkt vor dem Haus treibt, das er selbst gebaut hat und nun unbewohnbar ist. "Es wird doch immer schlimmer mit dem Extremwetter", sagt de Lima Lopes einer Reporterin der ARD-"Tagesschau". "Die Natur überreicht uns die Rechnung für das, was wir ihr antun." Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Und: Brasilien ist bei Weitem nicht das einzige lateinamerikanische Land, in dem die Auswirkungen massiv zu spüren sind. Gefühlt ein halber Kontinent leidet unter extremen Wetterbedingungen, die Expertinnen und Experten vor allem auf die Klimakrise zurückführen.

    Das Saarland sieht sich mittlerweile "wieder im Normalbetrieb"

    Deutschland hat sein erstes größeres Hochwasser des Jahres ja gerade erst überstanden. Vor allem den Südwesten hatte es erwischt, aber auch Teile Nord- und Ostbayerns. Das besonders betroffene Saarland sieht sich mittlerweile "wieder im Normalbetrieb", wie es ein Sprecher des Innenministeriums in Saarbrücken ausdrückt. Als Konsequenz aus den Unwettern wird im Land auch wieder über die mögliche Einführung einer Pflichtversicherung gegen Elementarschäden diskutiert; die Ministerpräsidenten der Länder wollen am 20. Juni mit Bundeskanzler Olaf Scholz darüber beraten, wie unsere Redaktion in dieser Woche exklusiv berichtete.

    In Brasilien sind solche Debatten so weit weg wie der Mond. Dort sind weite Teile des Landes ein einziger Notfall. "Die Katastrophe ist auf das Zusammentreffen mehrerer Faktoren zurückzuführen", sagt die Geografin Karina Lima im Gespräch mit unserer Redaktion. "Das Wetterphänomen El Niño ist immer noch präsent und begünstigt mehr Regen in der Region." Dazu muss man wissen: In Lateinamerika sind die Folgen der Wetterphänomene El Niño und La Niña besonders ausgeprägt. Bei El Niño kehrt sich das normale Strömungssystem des Pazifiks um. Dadurch wird der Osten warm und feucht, der Westen trocken. Bei La Niña wird dagegen das normale Strömungssystem ins Extrem verstärkt – der Westen wird ungewöhnlich warm und feucht, der Osten ungewöhnlich trocken.

    Rund 400 Gemeinden und Städte in Brasilien sind von den Überschwemmungen betroffen.
    Rund 400 Gemeinden und Städte in Brasilien sind von den Überschwemmungen betroffen. Foto: Andre Penner, dpa

    Im Fall des Unwetters in Brasilien habe es dann einen Korridor gegeben, der Feuchtigkeit aus dem Amazonasgebiet brachte, sowie "atmosphärische Blockaden aufgrund der warmen Luftmasse über dem Zentrum des Landes", ergänzt Lima. Das alles führte zu extremen Regenmengen über dem Bundesstaat Rio Grande do Sul. Die Expertin macht auch den Klimawandel für die Entwicklung verantwortlich: "Die Erwärmung der Atmosphäre und der Ozeane aufgrund der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung erzeugt die Energie für diese extremen Ereignisse."

    Wissenschaftler Marcelo Dutra sieht den Klimawandel als eine der Hauptursachen

    Hinzu kommen andere menschengemachte Umstände. Daten der Organisation MapBiomas zeigen dem britischen Sender BBC zufolge, dass Rio Grande do Sul zwischen 1985 und 2022 etwa 3,5 Millionen Hektar einheimischer Vegetation wie Wälder oder Sümpfe verloren hat. Das sind 22 Prozent. Stattdessen wird auf diesem Boden nun vor allem Soja angebaut. Wichtigster Abnehmer ist China.

    Auch der brasilianische Umwelt-Wissenschaftler Marcelo Dutra sieht den Klimawandel als eine der Hauptursachen für die Dimension der Regenfälle. "Es ist die Mischung von Klimawandel und Wetterphänomen. Und das bedeutet, dass Ereignisse wie sehr viel Regen in Zeiten von El Niño oder Dürren in Zeiten von La Niña vom Klimawandel noch einmal verstärkt werden." Dutra sagt unserer Redaktion: "Was wir in Rio Grande do Sul spüren, wird wahrscheinlich auch in anderen Teilen der Welt zu spüren sein. Belastungen durch extrem hohe Temperaturen, durch Winde, die weit über ihre bisherige Geschwindigkeit und Kraft hinausgehen, oder sehr starke

    Warum es nun ausgerechnet Rio Grande do Sul so heftig getroffen hat, erklärt Dutra mit der außergewöhnlichen geografischen Lage. "Die südlichen Regionen sind während La Niña weniger anfällig für intensive Regenfälle. Aber jetzt, während El Niño, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für starke Regenfälle", sagt er. "Unsere Lage ist unser Pech. Wir sind also genau im Visier des Klimawandels. Und deshalb müssen wir uns möglicherweise viel mehr anpassen als andere Regionen."

    Das alles wird nach Einschätzung von Dutra zu einer völlig neuen Vorgehensweise beim Wiederaufbau der Region führen: "Wir müssen die Pläne aller Kommunen überarbeiten. Alles innerhalb eines Flusseinzugsgebiets gehört auf den Prüfstand. Es wird nicht mehr möglich sein, einfach so weiterzumachen und wieder aufzubauen, wie wir es immer gemacht haben." Es seien Ernten, Infrastrukturen und Produktionsflächen zerstört worden. Dies alles bedeute: "Wir können nicht mehr die gleiche Brücke an die gleiche Stelle setzen oder die Brücke auf die gleiche Weise in der gleichen Größe bauen. Wir brauchen eine viel robustere und sicherere Straßeninfrastruktur. Und wir können nicht länger Wohngebiete in der Nähe von Gewässern an Stellen errichten, die nicht durch einen bestimmten Abstand geschützt sind und von denen wir bereits wissen, dass das Wasser bei einem sehr extremen Regenereignis dort zuerst eintrifft." Eine Aufgabe, die kaum bewältigbar erscheint. Die Überschwemmungen haben etwa 400 Gemeinden und Städte getroffen. Und: Die ersten Unwetter mit Toten gab es schon zu Beginn des Jahres.

    Brasiliens Präsident Lula da Silva bemüht sich um ein Krisenmanagement

    Wer den politischen Preis für diese Entwicklung zu zahlen hat, ist noch unklar. Präsident Lula da Silva bemüht sich um ein Krisenmanagement und sagt Hilfsgelder zu. Aber auch für ihn wie für die Vorgängerregierungen gilt: Eindringliche Warnungen wie die von der heutigen Umweltministerin Marina Silva, die die Schaffung einer Klimabehörde gefordert hatte, um vor solchen Extremwetterereignissen zu warnen, wurden schlichtweg ignoriert – auch von Lula. 

    Der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva spricht bei einem Ministertreffen über Pläne zur Unterstützung des von Überschwemmungen betroffenen Bundesstaates Rio Grande do Sul.
    Der brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva spricht bei einem Ministertreffen über Pläne zur Unterstützung des von Überschwemmungen betroffenen Bundesstaates Rio Grande do Sul. Foto: Eraldo Peres, dpa

    Inmitten dieser Gemengelage stehen wichtige Weichenstellungen an: Lula steht bislang hinter den Plänen des staatlichen Konzerns Petrobras, auch im Amazonasbecken nach Erdöl zu bohren. Das Unternehmen erlebt gerade personelle Turbulenzen an der Spitze. Die neue Präsidentin Magda Chambriard muss sich nun entscheiden: Weiter so wie früher oder neue Wege gehen. Die Zeitung O Estadao kommentiert: "Lula will nie da gewesene Situationen mit alten Ideen angehen, sowohl bei der Tragödie in Rio Grande do Sul als auch bei Petrobras."

    Aber Brasilien ist derzeit nicht das einzige Krisenzentrum dieser Art in Lateinamerika. In der zentralmexikanischen Region Huasteca Potosina lassen gefühlte Temperaturen von 55 Grad die Mönchsittiche abstürzen. Dutzende der grünen Papageien sind ebenso wie die ikonischen Tukane nach Berichten der Tageszeitung El Universal in den letzten Tagen vom Himmel gefallen. Einige dehydriert, andere tot. Die Umweltorganisationen Selva Teenek Ecopark und Uma kümmern sich inzwischen um die Aufnahme der Vögel und geben Tipps, wie diese und andere Tiere vor den extremen Temperaturen geschützt werden können. Sofern das mit menschlicher Hilfe überhaupt möglich ist.

    Rund 3500 Kilometer weiter südöstlich in Costa Rica sorgten zuletzt ausbleibende Regenfälle dafür, dass die Stauseen immer leerer wurden. Weil das Land aber fast komplett auf erneuerbare Energien setzt, drohte zum ersten Mal seit 2007 eine Rationierung von Strom. Die zuständigen Behörden führen die dramatische Situation auf El Niño zurück, der seit Mitte 2023 ein Niederschlagsdefizit von 40 bis 70 Prozent verursacht habe. Überraschend starke Regenfälle am vergangenen Wochenende ließen die Pegel aber wieder steigen, das Land ist auf den letzten Tropfen noch einmal um eine veritable Stromkrise herumgekommen. Präsident Rodrigo Chaves wirbt nun dafür, wieder über die Förderung von Erdöl- und Erdgas nachzudenken, um die Energieversorgung wetterunabhängiger zu machen. Dagegen gibt es erbitterten Widerstand von Umweltschutzorganisationen. 

    Auch in den Anden sind die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren

    Mittelamerika erlebte zuletzt nicht nur Dürren oder Regenfälle. Verheerende Tropenstürme und Hurrikane sorgten in Honduras, El Salvador und Guatemala für verheerende Zerstörungen und Ernteausfälle – und sind ein Motor für die Migration in Richtung Norden, also Richtung USA. Neu sind solche Verhältnisse nicht, aber ihre Ausprägung und Häufigkeit werden immer auffälliger. In Uruguay schlugen die Behörden im vergangenen Jahr Alarm, weil das Trinkwasserreservoir für die Hauptstadt Montevideo wegen einer anhaltenden Dürre zu versiegen drohte. Wasserhähne röchelten bedrohlich, die Regierung mischte schließlich Wasser des Rio de la Plata hinzu. Auf den letzten Drücker begann es zu regnen, Uruguays Metropole entging nur knapp einem Desaster. 

    Auch in den Anden sind die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren. Dort drohen Geisterdörfer wie im argentinischen Skigebiet "Los Penitentes". Auf dem verwaisten Marktplatz wachsen inzwischen Gräser und Blumen. Einst war die Gemeinde das Skisport-Vorzeigeprojekt des Landes, doch dann fiel immer weniger Schnee. Das Wintersportgebiet liegt auf einer Höhe von 2579 bis 3194 Metern zu Füßen des Aconcagua, dem mit 6961 Metern höchsten Gipfel Amerikas. Eine Mischung aus Klimawandel und Misswirtschaft haben "Los Penitentes" inzwischen zu einer Tourismus-Ruine und einer Art Klima-Menetekel gemacht. Zum Skifahren und Snowboarden stehen eigentlich rund 25 Kilometer Piste zur Verfügung. Lifte könnten Gäste befördern. Doch es fällt seit Jahren einfach nicht mehr genügend Schnee. "Es ist immer noch schlimmer geworden", sagt Bewohnerin Veronica Tsallis gegenüber lokalen Medien. Das Dorf sei heute ein Ort ohne Zukunft. 

    In Venezuela schließlich ist die Entwicklung noch einen Schritt weiter. Der Humboldt-Gletscher, auch bekannt als La Corona, bedeckte einst 4,5 Quadratkilometer Fläche. Heute existiert nur noch ein klitzekleiner Bruchteil davon. Vor mehr als hundert Jahren zählte

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